Codename Azteke
über das gesamte Land verhängt, und die Sendungen des neuen Regimes begannen.
»Alle Vaterlandsverräter werden sofort angeklagt … Alle Amtsinhaber haben sich morgen früh, sobald die Ausgangssperre aufgehoben wird, bei der nächsten Polizeiwache zu melden …«
Der Putsch war schon seit einiger Zeit geplant gewesen, und die Verhaftungen begannen augenblicklich. In den nächsten Tagen wurden alle, die mit dem Allende-Regime in Verbindung standen, aufgespürt und ins Fußballstadion von Santiago verschleppt, von wo aus sie zu brutalen Befragungen oder zur Exekution gebracht wurden.
Für einige – offene, einflussreiche Kommunisten, die wenig nützliche Insiderinformationen hatten – hatte man sehr schnell eine Kugel bereit.
Bei denjenigen, die aktiv an der Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft in Chile beteiligt waren, wurde der Tod so lange hinausgezögert, bis die Folterknechte alle Informationen aus ihnen herausgequetscht hatten, die zu weiteren Verhaftungen führten in einem Teufelskreis, der erst endete, wenn nicht mehr die
kleinste Spur der Ära Allende zu finden war. In jenen ersten Tagen starben über zweitausend Zivilisten.
In Santiago war ein Colonel des Geheimdienstes die Namen auf der Liste der »Meistgesuchten« durchgegangen. Es wurden Spezialeinheiten ausgeschickt, die den Befehl hatten, sie unter allen Umständen zu verhaften und zu verhindern, dass sie sich versteckten.
»Die hier«, erklärte er einem eifrigen jungen Offizier und reichte ihm ein Dossier. »Sie könnte uns zum gesamten kubanischen Netzwerk führen, wenn man ihr etwas Zeit lässt.«
»Ich könnte sie in die Villa Grimaldi bringen lassen…«, schlug der Capitán vor.
»Nein, Ortiz. Dazu haben wir leider keine Zeit. Diese Schlampe können wir nicht gefangen halten. Irgendjemand würde es herausfinden, und dann bekommen wir ein Riesenproblem. Und zwar von ganz oben.«
»Und wie lauten meine Befehle, Colonel?«
»Sie haben nur heute: Tun Sie Ihr Bestes.« Er sagte es so, dass kein Zweifel daran blieb, dass er Resultate erwartete.
»Jawohl!«
»Keine Zeugen und keine Spuren, Ortiz. Sie ist nur eine Chilenin – und dazu noch eine dreckige Verräterin –, egal was der Scheißkerl, bei dem sie wohnt, glauben mag.«
Lucía saß auf dem Sofa und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Mutter saß besorgt neben ihr.
»Glaubst du, dass du das Land verlassen musst?«, fragte sie ihre Tochter.
»Wahrscheinlich«, antwortete Lucía traurig. »Ich glaube nicht, dass sie Jesús wieder hereinlassen.«
»Aber er ist ein Diplomat …«, wandte Eva ein.
»Sie werden ihn nicht hereinlassen, Mutter.« Lucía war sich sicher. »Und ich bezweifle, dass Castro es ihm überhaupt erlaubt, Kuba zu verlassen. Es werden bestimmt Leute aus der Botschaft abgezogen werden, wenn sie nicht sogar ganz geschlossen wird.«
»Der arme Allende«, sagte Eva. »Er hat Pinochet erst letzten Monat ernannt!«
»Ich weiß«, erwiderte Lucía, aber sie dachte bereits weiter. »Amtsinhaber haben sich zu melden …« Sie wusste, was das bedeutete. Alle aus Allendes Kader – Organisatoren, Gewerkschaftler, Sozialreformer, der gesamte Apparat des sozialistischen Chile – wurden aufgefordert, sich den neuen Herren zur sofortigen Verhaftung und Gott weiß was sonst noch auszuliefern.
Sie musste an ihre Kollegen im Büro denken und griff schon nach dem Telefon, als ihr wieder einfiel, dass die Leitungen unterbrochen worden waren.
Es klopfte laut an der Tür, und die beiden Frauen schraken auf. Lucía bat ihre Mutter, bei dem Baby zu bleiben, und ging die Haustür öffnen.
»Mrs Florin?«
Auf dem Uniformhemd des Mannes vor ihr stand der Name Ortiz, und er trug die Abzeichen eines Capitán auf den Epauletten. Drei junge Männer mit Helm, ein Korporal und zwei Soldaten, hatten sich selbstgefällig hinter ihm aufgebaut. Sie trugen Handfeuerwaffen, aber keine Gewehre. Armee, bemerkte Lucía, keine Marine.
»Folgen Sie mir«, verlangte der Offizier und schob sich an ihr vorbei. Die drei Soldaten folgten ihrem jungen Anführer ins Haus und schoben Lucía förmlich mit sich.
»Was haben Sie vor?«, protestierte sie.
»Ich befasse mich mit Abschaum und Verrätern«, erklärte er und drehte sich erbost zu ihr um. »Sind Sie eine Verräterin, Mrs Florin?«
»Natürlich nicht!«
»Was ist denn los, Liebes?«, fragte Eva, die, immer noch mit María Luz auf dem Arm, in die Diele kam und erschrocken zurückwich, als sie sah, wie die
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