Codename Hélène
entkommen. Die Soldaten folgten ihnen schießend.
Violette Szabo, die nicht schnell laufen konnte wegen der Nachwirkungen eines Monate zuvor beim Fallschirmtraining erlittenen Bruchs des Fußknöchels, bewies uneigennützig Mut in dieser ausweglosen Situation. Sie drängte den Franzosen, sich durchzuschlagen zu Liewer, damit der rechtzeitig gewarnt wurde. Seine Flucht würde sie decken, indem sie die Deutschen unter Feuer nahm und ihm so den Rücken freihielt.
Sie schoss, bis ihr die Munition ausging. Dann ergab sie sich.
Was danach passierte, hatten sie und andere, auch Nancy Wake, in England bei der Ausbildung bereits anschaulich erfahren, als die künftigen SOE -Agenten, nachts aus dem Schlaf gerissen, von schwarz gekleideten Männern verhört worden waren. Verbunden mit einigen, wenn auch leichten Schlägen, geblendet von Scheinwerfern, die auf ihre Gesichter gerichtet waren, angebrüllt von Stimmen, die aus dem Dunkeln kamen. Damals nur eine Übung, die sie unbeugsam, ungebrochen bestehen sollten, und, sobald das Licht wieder anging, vom Albtraum befreit, der sie in Angst und Schrecken versetzte bis an die Grenzen ihrer psychischen und physischen Kräfte.
Jetzt war es die brutale Wirklichkeit. Jetzt gab es kein Erwachen mehr aus einem schlechten Traum. Jetzt ging es um Leben und Tod. Im Hauptquartier des SD in Limoges wurde sie verhört und gefoltert, doch sie schwieg. Ihrem Begleiter war die Flucht gelungen, er hatte unterdessen Philippe Liewer alarmieren können. Der stellte sofort ein Kommando zusammen, um Violette aus dem Gefängnis zu befreien, denn er ahnte, was ihr bevorstand, aber bevor sie losschlagen konnten, hatte der SD seine Gefangene in die Hände der uniformierten Folterknechte der Gestapo in der Avenue Foch in Paris übergeben. Aus dem vierstöckigen riesigen Gebäude, Hausnummer 82 – 86 , genauer: aus dem dritten Stock, wo der Pariser Polizeichef, SS -Mann Josef Kieffer, das Kommando hatte, oder aus den Kellern, wo die Verhöre stattfanden, war noch nie jemand entkommen: Tag und Nacht Folter, Kopf ins eiskalte Wasser gedrückt, bis sie bewusstlos war. Stromschläge. Schlafentzug. Prügel. Violette Szabo schwieg. Irgendwann gaben die Männer auf. Kieffer setzte sie auf die Liste der zu Deportierenden. Wer auf der stand, war dem Tod geweiht.
Es begann für sie eine lange Reise in die Nacht, eine Reise zur Endstation ihres Lebens. Der Transport nach Deutschland, immer wieder unterbrochen durch Luftangriffe, bei denen der Zug anhielt und die Wachen ihre Gefangenen dem Schicksal überließen, dauerte Tage. Zu essen und zu trinken gab es nichts. Violette Szabo und die beiden anderen wie sie beim Einsatz festgenommenen Agentinnen Denise Bloch und Lilian Rolfe waren an den Füßen gefesselt. Sie konnten deshalb nur kriechen. Unter den gleichfalls gefesselten Männern am anderen Ende des Waggons befanden sich vier Agenten von Churchills Geheimdienst, ausgedörrt und durstig wie die Frauen. Violette Szabo schleppte sich kriechend zum Klo, schöpfte in einen Blechnapf Wasser und reichte den durch die Gitterstäbe des Abteils, in dem sie zusammengepfercht waren. Wiederum kriechend.
Einer dieser Männer überlebte den Krieg. Edward Yeo-Thomas, in Friedenszeiten Damenschneider in Paris, seit 1943 bei Special Operations Executive , war, durch einen Verräter enttarnt, in die Hände der Gestapo gefallen und ähnlich brutal gefoltert worden wie Violette. Er überlebte das KZ Buchenwald und erinnerte sich an die Zugfahrt und an sie als eine ungewöhnlich mutige Frau: »My God, this girl has guts.«Auf der Most-Wanted -Liste der Gestapo stand Yeo-Thomas ein paar Zeilen unter der gesuchten »White Mouse« alias Nancy Wake mit dem Codenamen »White Rabbit«.
Im Konzentrationslager Ravensbrück erfuhren Violette Szabo, Denise Bloch und Lilian Rolfe auf Befehl des Lagerkommandanten eine Sonderbehandlung der SS -Art. Tagsüber mussten sie schuften, nachts bekamen sie Schläge. Kontakt mit anderen Gefangenen war verboten. Odette Sansom berichtete nach ihrer Befreiung von den Schreien, die sie aus der Nachbarzelle hörte, aber auch, wie Violette Szabo, deren letzter Versuch zur Flucht gescheitert war, ihre Peiniger beschimpfte und verhöhnte. Am 27 . Januar 1945 wurden Violette Szabo, 23 , Denise Bloch, 29 , und Lilian Rolfe, 31 , barfuß durch den Schnee an eine Mauer geführt, ihnen die Todesurteile vorgelesen und danach alle drei per Genickschuss hingerichtet. Die Leichen verbrannten ihre Mörder. Sie sollten
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