Codex Alera 06: Der erste Fürst
dein Anführer und meiner gezwungen sein werden, sich zu duellieren.«
»So scheint es«, sagte Sha philosophisch. »Obwohl sie beide so etwas schon erlebt und überlebt haben. Der Stärkere wird es an dem anderen beweisen.«
Marcus verzog das Gesicht. »Das ist ein Verlust für unsere beiden Völker, ganz gleich, wer gewinnt.«
»Ist dir eine Lösung eingefallen?«
»Noch nicht«, sagte Marcus. »Aber das heißt nicht, dass es keine gibt.«
Sha ließ ein nachdenkliches Knurren vernehmen. »Es ist vielleicht noch möglich, Khral, den Feind meines Herrn, niederzustrecken.«
»Ich dachte, die angemessene Bezeichnung wäre ›Meister Khral von den Blutsprechern‹.«
»Khral«, wiederholte Sha.
Marcus spürte, wie er im Dunkeln lächelte. »Was wäre dadurch gewonnen, wenn man ihn entfernt?«
»Zeit. Es wird eine Verzögerung geben, bis sich eine neue Führung unter den Blutsprechern herausgebildet hat.«
»Was selbst aber zusätzliche Schwierigkeiten schaffen könnte.«
»Ja.«
»Was wäre der Preis dafür, diese Zeit zu erkaufen?«
»Mein Leben«, sagte Sha schlicht, »das ich zur Entschuldigung meinem Herrn anbieten würde, sobald es vollbracht wäre.«
Marcus runzelte in der Dunkelheit die Stirn. Er war nahe daran zu fragen, ob der Cane willens war, solch ein Opfer zu bringen, aber die Frage war töricht. Wenn Sha sagte, dass er so etwas in die Tat umsetzen würde, dann würde er es gewiss auch tun. »Gehört dein Leben dir, dass du es beenden kannst?«
»Wenn ich nach bestem Wissen und Gewissen davon ausgehen kann, dass es im Dienste der Ehre meines Herrn geschieht? Ja.«
»Würde der Verlust deiner Dienste deinen Herrn nicht auf lange Sicht sehr einschränken?«
Kurz herrschte tiefes Schweigen. »Vielleicht«, sagte Sha mit einem grollenden Unterton der Enttäuschung. »In dem Fall würde ich meine Pflicht ihm gegenüber vernachlässigen, wenn ich diesen Weg einschlage. Es ist schwer, die ehrenhafte Vorgehensweise zu erkennen.«
»Und doch dienst du seinen Interessen nicht, wenn du es Khral gestattest, weiter an der Macht zu bleiben.« Marcus kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Was du tun musst …«
Sha wartete in geduldigem Schweigen.
»Du kannst diesen Cane nicht ermorden, weil du fürchten müsstest, ihn für dein Volk zum Märtyrer zu machen, nicht wahr?«
»Genau.«
Marcus kratzte sich am Kinn. »Ein Unfall vielleicht? Diese Schiffe sind schließlich gefährlich.«
»Mein Herr würde niemals die zusätzlichen Verluste an Leben billigen, die das erfordern würde – und er würde sie sich auch nicht verzeihen. Nein.«
Marcus nickte. »Es wäre auch schwierig, ihn vor die Kufen seines Schiffs zu stoßen, ohne gesehen zu werden.«
»Unmöglich«, sagte Sha. »Ich habe die letzten beiden Tage damit verbracht, nach einer Gelegenheit zu suchen. Er versteckt sich in seiner Kajüte, umgeben von Speichelleckern. Feige.« Er hielt kurz inne und räumte dann ein: »Wenn auch praktisch.«
Marcus trommelte mit den Fingerspitzen auf den kühlen Stahl seiner Rüstung. »Was geschieht, wenn er nicht ermordet wird? Wenn er einfach … verschwindet. Kein Blut. Keine Kampfspuren. Niemand sieht ihn je wieder.«
Sha ließ ein weiteres grollendes Knurren vernehmen, eines, das dafür sorgte, dass sich Marcus die Nackenhaare aufstellten, obwohl er langsam begriffen hatte, dass das Geräusch bei dem Cane eher etwas mit Nachdenken zu tun hatte. »Er verschwindet. Das ist … in unserem Dienst nicht üblich.«
»Nicht?«
»Nie. Wir dienen unseren Herren, aber letztendlich sind wir seine Waffen, seine Werkzeuge. Er steht hinter unserer Arbeit, als ob er sie mit eigenen Händen verrichtet hätte. Wenn mein Herr sein Problem am besten lösen könnte, indem er einen anderen Cane tötet, würde er das mit seiner eigenen Klinge tun. Wenn er das aus Gründen der Tradition oder aufgrund des Kodex nicht tun kann und seine Jäger ausgeschickt werden, dann weiß jeder, dass sie dennoch seine Waffen sind.«
»Und das schützt ihn vor den Konsequenzen seiner Taten?«
»Sofern seine Jäger nicht erwischt werden«, sagte Sha. »Das ist die angemessene Art für einen großen Herrn, seine Ehre zu verteidigen, wenn ein Feind sich hinter dem Gesetz versteckt. Khral erzählt unserem Volk Lügen, er behauptet, dass mein Herr vorhat, die Blutsprecher zu vernichten. Und seine Warnung lautet, dass der Zeitpunkt gekommen ist, wenn er ermordet wird.«
»Was ihm den Status eines Märtyrers verleiht, ohne dass er den
Weitere Kostenlose Bücher