Cold Fury: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
wieder vorbei.
Wenn ich in der Schule merke, dass so ein Anfall kommt, dann renne ich aufs Klo oder in ein leeres Klassenzimmer, schlage mir die Hände vors Gesicht und murmele vor mich hin, bis ich es überwunden habe. Wenn ich aber alleine bin, dann versuche ich, diesem Gefühl freien Lauf zu lassen, es möglichst lang auszukosten und aus tiefster Seele zu weinen, bis keine Tränen mehr in mir sind. Aber egal, wie sehr ich auch versuche, es in die Länge zu ziehen, es geht immer schnell vorbei, wie ein kurzer, aber heftiger Tropensturm. Etwas in mir begreift wohl, dass ich zwar gelegentlich Dampf ablassen muss, dass es aber einfach zu gefährlich wäre, mich dem unkontrolliert hinzugeben.
Das erste Mal passierte mir das in der U-Bahn, nachdem ich Onkel Buddy entkommen war.
Was ich in der Backstube gesehen und gehört hatte, war einfach zu viel, um es so ohne Weiteres zu verkraften.
Mein Kopf fühlte sich ganz benommen an, während ich erfolglos versuchte, das Erlebte irgendwie mit der Realität in Einklang zu bringen.
Als ich mich blinzelnd im Wagen umsah, wurde mir klar, dass ich schon seit Stunden unterwegs war. Der Zug hatte den Tunnel verlassen und fuhr über eine erhöhte Trasse. Meine Nase kribbelte, und dann brach ich in Tränen aus und weinte so heftig, dass es sich anfühlte, als ob ich einen Tritt gegen die Brust bekam. Ich war außer mir, fragte mich, um wen ich weinte, und merkte schließlich: um mich selbst. Es hörte auf, als ich mich der bitteren Tatsache stellte, dass ich mir solche selbstmitleidigen Touren höchstens für ein paar Sekunden leisten konnte. Als ich mich wieder aufsetzte, stellte ich fest, dass weder der vor sich hin dämmernde Betrunkene noch der technikverliebte Nerd, der auf seinem iPad herumtippte, etwas von meinem Mini-Zusammenbruch mitbekommen hatten. In diesem Augenblick kam mir der Gedanke, dass ich nach all dem, was ich inzwischen durchgemacht hatte, vielleicht einmal mit einem guten Therapeuten sprechen sollte. Und dann dachte ich an die Kids, die Stunde um Stunde auf einer Couch lagen und über ihr Leben klagten – teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht –, und die teilweise wirklich ADHS hatten, teilweise auch nicht, aber trotzdem Ritalin bekamen, und ich dachte: Scheiß auf Therapien. Was ich brauche, ist meine Familie.
Ich umarmte den Aktenkoffer, als sei er mein kleiner Bruder.
Um Mitternacht stieg ich an der Station aus, die der Bäckerei am nächsten lag.
Die Bürgersteige waren verlassen, als ich zum Lincoln lief.
Der Motor, der meine innere Wut speiste, lief auf vollen Touren, und die Tränen waren längst versiegt. Ich hielt mich unnötig lange damit auf, die Autotür aufzuschließen, weil ich tatsächlich ein wenig darauf hoffte, Onkel Buddy würde aus den Schatten springen, damit ich ihm eins mit dem Aluminiumkoffer überziehen konnte, um ihm dann ein paar Minuten lang ins Gesicht zu treten. Aber nein, ich war allein auf der Straße, und dieses Vergnügen würde warten müssen, bis ich meinem »Lieblingsonkel« das nächste Mal gegenübertrat. Ich hatte, was er wollte, und ich wusste, dass er mich deswegen verfolgte und wir früher oder später aufeinandertreffen würden. Nachdem ich so lange im Zug gesessen hatte und dabei mein Hirn und mein Herz von links auf rechts gekrempelt worden waren, fand ich diesen Gedanken durchaus begrüßenswert.
Trotz den Schlägen, die ich hatte einstecken müssen, und trotz der Tatsache, dass ich mich gerade in eine unkontrollierbare Heulsuse verwandelte, erwuchs aus meiner Angst ganz allmählich ein dringendes Bedürfnis nach Rache, das sich nicht mehr beiseiteschieben ließ.
Während ich meine Faust ballte und wieder lockerte, hoffte ich, dass einer meiner Verfolger schon bald meinen linken Haken schmecken würde.
Die Vorfreude auf einen schönen Schlag, die ich beinahe körperlich spürte, ließ mich an Willy denken und daran, dass er wegen meiner langen Abwesenheit schrecklich besorgt sein würde. Dann blickte ich eine dunkle Gasse entlang und mir fiel wieder ein, dass Harry am Morgen ebenfalls verschwunden war. Mir tat das im Herzen weh, aber mein Herz schlug jetzt sowieso in einem ganz anderen Rhythmus, der mir immer wieder vor Augen hielt, dass es Dinge gab, die in meiner Macht lagen, und andere, die sich mir entzogen. Um selbst zu überleben und das Überleben meiner Familie zu sichern, musste ich jene Probleme beiseiteschieben, die ich nicht lösen konnte – wie beispielsweise, Harry zu finden. Wichtig
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