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Colin Cotterill

Titel: Colin Cotterill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Siri und seine Toten
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Problem lag. Normalerweise kam Geung morgens als Erster. Er hatte den Doktor noch nie zu dieser frühen Stunde bei der Arbeit angetroffen, und das warf ihn aus der Bahn. Er brauchte Ordnung und Beständigkeit. Und deshalb fragte Siri ihn wie üblich: »Irgendwelche Kundschaft heute?«
    Geung klatschte lachend in die Hände. »Nein, heute keine Kundschaft, Doktor.« Beruhigt stel te er seinen Reiskorb auf seinen Schreibtisch und begann den Tag von vorn. Siri beugte sich wieder über seine Arbeit.
    »Nanu! Haben Sie sich gestern Abend hier eingeschlossen?« Dtui stand lächelnd in der Tür.
    »Ist es etwa so ungewöhnlich, dass ich früher zur Arbeit erscheine, Schwester?«
    »Nein. Nicht ungewöhnlicher als ein Schneesturm in Vietnam.
    Komischerweise schafft der es jedes Mal auf die Titelseite der Zeitung.« Sie bemerkte, dass die Tür der Kühlkammer offen stand. »Dreht sie eine Runde um den Block?«
    Siri lachte. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie um diese Zeit schon zu Scherzen aufgelegt sind, wäre ich jeden Morgen früher gekommen. Ihr Mann hat sie gestern Abend mit nach Hause genommen.«
    »Wie romantisch.«
    Auch Dtui ging ins Dienstzimmer und deponierte ihr Mittagessen auf ihrem Schreibtisch. In der Tür stieß sie mit Geung zusammen.
    »›Guten Morgen, schöner Mann‹«, soufflierte er.
    »Guten Morgen, schöner Mann«, sagte sie.
    »Guten Morgen, schöne Frau. Witz?«
    »Was hat zwei Räder und frisst Menschen?«
    »Keine Ahnung.«

    »Ein Löwe auf einem Fahrrad.« Geungs Lachen war so ansteckend, dass sie mitlachen musste. Auch Siri konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Dass seine Mitarbeiter so gut miteinander auskamen, erfül te ihn mit väterlichem Stolz. Es handelte sich offensichtlich um ein Morgenritual, das er noch nie miterlebt hatte. Zwar bezweifelte er, dass Geung al e Witze Dtuis verstand, aber er wusste, dass er sie noch in einem halben Jahr wortwörtlich würde wiedergeben können.
    Er starrte auf das Gehirn auf dem Glastablett. Er hatte ihm nicht genügend Zeit gelassen, um sich richtig zu setzen. Es war puddingweich. Aber er wol te nicht länger warten; er musste sich Gewissheit verschaffen, sonst hatte er keine Ruhe. Er nahm sein längstes Skalpel und durchtrennte das Gehirn mit einem ebenso präzisen wie vorsichtigen Schnitt. Er wiederholte diesen Vorgang mehrere Male, bis das Gehirn in Scheiben vor ihm lag wie ein klitschiger Laib Brot. Er zog die Einzelteile behutsam auseinander und inspizierte sie mit einer großen Lupe.
    Dtui, die zum Schutz gegen den Staub eine Atemschutzmaske übergestreift hatte, fegte den Lagerraum aus.
    »Dtui, bringen Sie mir doch mal eben die Kamera.«
    Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Die Kamera?«
    »Ja, bitte.«
    »Also…«
    »Was ist denn?«
    »Auf dem Film sind nur noch drei Aufnahmen.«
    »Das genügt.«
    »Doktor, heute Abend ist Schwester Bounlans Hochzeitsfeier. Da wol te ich…«
    »Sie genießt mein vol stes Mitgefühl. Aber das hier ist wichtiger. Glauben Sie mir.«
    Nachdem er die Proben genommen und beschriftet hatte, verabschiedete Siri sich von seinen Mitarbeitern. Er packte einen mit Flüssigkeit gefül ten Plastikbeutel und ein paar Laborfläschchen zusammen und ging. Wohin, verriet er nicht.

    Er marschierte zur Tür hinaus, vorbei an seinem ramponierten alten Motorrad, das seit drei Monaten auf dem Fahrradparkplatz stand und Staub und Spinnweben ansetzte. Einen neuen Vergaser konnte er sich nicht leisten. Er wol te eben nachsehen, ob er genügend Geld für ein Song-theo-Taxi bei sich hatte, als ihm eine Idee kam. Er ging noch einmal in die Pathologie zurück und ertappte Dtui beim Lesen.
    »Dtui.«
    »O Gott. Muss das sein? Sie haben mich zu Tode erschreckt.«
    »Dann tun Sie nichts, wobei Sie nicht erwischt werden möchten. Wie sind Sie heute zur Arbeit gekommen?«
    »Hä? Mit dem Fahrrad. Wie immer.«
    »Gut. Ich möchte es mir leihen.«
    »Wozu?«
    »Na, wozu wohl?«
    »Kommt nicht in Frage.«
    »Und warum nicht?«
    »Ich würde es mir nie verzeihen, wenn Sie… Sie wissen schon.«
    »Ich weiß gar nichts.«
    »Nun ja, Doktor. Sie sind nicht mehr der Jüngste.«
    »Wol en Sie damit sagen, ich bin zu alt zum Radfahren?«
    »Nein.«
    »Sondern?«
    »Ab dem siebzigsten Lebensjahr steigt das Herzinfarktrisiko jährlich um vierzig Prozent.«
    »Gott, nach dieser Rechnung liege ich bereits bei hundertzwanzig Prozent. Da kann ja wohl was nicht stimmen.«
    »Zugegeben, ich habe eventuel ein bisschen übertrieben, aber ich wil nicht, dass

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