Colin Cotterill
Sie auf meinem Fahrrad sterben.«
»Dtui. Seien Sie nicht albern. Ich schwöre Ihnen, ich bekomme keinen Herzinfarkt. Nun leihen Sie mir schon Ihr Rad.«
»Nein.«
»Bitte.« Seine grünen Augen wurden feucht. Das klappte immer.
»Na schön. Aber nur unter zwei Bedingungen.«
»Damit tue ich mir zwar mit Sicherheit keinen Gefal en, aber was sol ’s.«
»Nämlich erstens, dass Sie schön langsam fahren und absteigen, wenn Sie nicht mehr können.«
»Einverstanden.«
»Und zweitens, dass Sie mich zu Ihrer Nachfolgerin ausbilden.«
»Was?«
»Doktor Siri. Sie beknien das Gesundheitsministerium seit Monaten, jemanden zur Ausbildung nach Osteuropa zu schicken, ohne Erfolg.«
»Nein.«
»Dabei gibt es in Ihrer Abteilung eine junge, intel igente Krankenschwester, die fleißig ist wie eine Biene, ergeben wie ein Schoßhund und zäh wie… äh…
wie Elefantenhaut und nichts lieber täte, als bei Ihnen in die Lehre zu gehen.«
»Nein.«
»Und dann könnten Sie sagen, Sie kennen da eine blitzgescheite junge Frau, die bereits zur Pathologin ausgebildet ist und ihre Kenntnisse im Zuge eines Studiums in Bulgarien oder so vertiefen möchte.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Dazu sind Sie nicht der Typ.«
»Weil ich eine Frau bin?«
»Weil Sie Comics und Fanmagazine lesen.«
»Ich brauche eben Anregung.«
»Dass Sie es wagen, mich überhaupt danach zu fragen. Sie sind ein Schwachkopf. Seit wann interessieren Sie sich eigentlich so brennend für Pathologie?«
»Ich habe mich immer schon dafür interessiert. Aber ich darf ja nur die uninteressanten Arbeiten erledigen. Sie behandeln mich wie eine Sekretärin.«
Geung kam mit einem Eimer in der einen und einem Mopp in der anderen Hand ins Zimmer.
»St… st… streitet ihr?« Er lächelte.
Siri schnappte sich den Fahrradschlüssel von Dtuis Schreibtisch. »Nein. Wir streiten nicht. Schwester Dtui versucht nur gerade, mir eine dreijährige Ausbildung und eine Europareise abzupressen, weil ich mir für zwanzig Minuten ihr Fahrrad leihen möchte. Ein fairer Tausch, finden Sie nicht?«
Dtui stürmte zur Tür hinaus. »Nehmen Sie das blöde Rad.«
Weit mehr als zwanzig Minuten später stand Siri vor einem kleinen Haus mit Blick auf die große gelbe Stupa. Er hatte seit dreißig Jahren auf keinem Fahrrad mehr gesessen. Er hätte absteigen und sich ausruhen sol en, als ihm auf der That Luang Road die Puste ausging und die Knie weich wurden. Aber er wol te Dtui beweisen, dass man auch mit über siebzig noch zäh wie Elefantenhaut sein konnte.
»Hal o, Onkel.« Lehrerin Oum stand in der offenen Tür, sah den keuchenden alten Arzt forschend an und fragte sich, warum er nichts sagte. Da sie nicht recht wusste, was sie tun sol te, damit er wieder zu Atem kam, tat sie nichts.
Sie war schließlich Wissenschaftlerin und keine Krankenschwester.
Die angenehm rundliche Oum war Lehrerin am Lycée Vientiane. Dass sie auf einen Mann wie Siri, der gleichsam sein Leben für sie hingegeben hätte, einen ganz besonderen Reiz ausübte, hatte zwei Gründe. Erstens war sie die einzig verbliebene Chemielehrerin im Land. Siri lechzte förmlich nach Chemikalien, und sie hatte welche. Wenn man das entsprechende Nachschlagewerk besaß, konnte man anhand der Farbe, die beim Mischen von Chemikalien und Körperflüssigkeiten entsteht, Antworten auf viele Fragen erhalten.
Oum war vor kurzem aus dem australischen Sydney heimgekehrt, wo sie Verfahrenstechnik studiert und mit einem sexuel aktiven jungen Mann namens Gary zusammengelebt hatte. Dem verdankte sie nicht nur ihr für laotische Verhältnisse beispiel oses Wissen um chemische Verbindungen, sondern auch umfangreiche Englischkenntnisse und nicht zuletzt einen einjährigen Sohn mit rotem Haar.
Ihr Englisch war der zweite Grund, aus dem Siri sich zu ihr hingezogen fühlte.
Er besaß ein von der Chiang-Mai-Univer-sität herausgegebenes Handbuch, mit dessen Hilfe sich viele Farbtesträtsel entschlüsseln ließen. Wäre es auf Thai, Französisch oder auch Vietnamesisch geschrieben gewesen, hätte es ihm bei seiner Arbeit unschätzbare Dienste leisten können. Leider war es auf Englisch. Das Englischvokabular des armen Doktors umfasste, grob geschätzt, elf Wörter, und seine Aussprache war so verheerend, dass ihn kein Mensch verstand.
Folglich brauchte Siri die Lehrerin nicht nur ihrer Chemikalien wegen, sondern auch zum Entziffern der Gebrauchsanweisung.
»Was ist denn in dem Beutel?«
Siri hielt immer noch den kleinen Plastikbeutel in
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