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Coltan

Coltan

Titel: Coltan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivo Andress
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Gallert.“
    „Ookay.“
    Marita stand neben mir, hob den Buchdeckel an
und grinste: „Na, Zeit für ‘n Hobby?“
    Ich klappte das Buch zu.
    „Wo ist denn Deine Freundin, mit der Du immer
schnurstracks hier vorbei bist.“
    Die Frage traf mich ebenso unvorbereitet wie
die Antwort meines Körpers. Mein Mund war schlagartig trocken, Tränen suchten
sich ihren Weg und Marita erschrak. Mehr als „tot“ brachte ich nicht heraus.
    Ihre Hände legten sich erst zaghaft um meinen
Kopf, dann zog sie ihn auf ihre Schulter und strich mir behutsam über den
Rücken. „Ruhig“, flüsterte sie, „ruhig.“
    Ich verlor jedes Zeitgefühl, spürte nur ihre
Hände, die langsam über meinen Kopf, meinen Rücken strichen. Silke verfrachtete
die Belegschaft des Stammtischs lautlos an die Theke und Marita zog mich in die
dunkle Ecke. Ich erzählte, sie hörte zu.
    Stunden später übertönten Nachtigallen das späte
Wispern der Partygänger. Letzte Autos rollten auf der Suche nach einem
Parkplatz die Straße entlang. Ich starrte in den blauschwarzen Nachthimmel.
    Was ich gerade sah, waren Lichter, die vor
Jahrtausenden zu einer Reise durchs Universum aufgebrochen waren, ohne Ziel,
ohne Sinn. Der Zufall brachte ihr Abbild in diesem Augenblick auf meine
Netzhaut. Ich stellte mir vor, dass auf der anderen Seite des Alls jemand ebenso
in diesen unendlichen Himmel starrt. Vielleicht hatte er ein Teleskop, ein
Riesenteleskop, mit dem er Abend für Abend die Erde beobachtete. Wenn er nur
weit genug weg war, dann sah er vielleicht in diesem Moment Lily durch die
abendlichen Straßen laufen. Er würde versuchen, sie noch näher ins Bild zu
holen, sehen, wie Schweiß über ihr Dekolleté perlt, sich wünschen, das Ziel
ihres späten Spaziergangs zu sein. Möglich, dass er sich vorstellt, ihr Minuten
später die Bluse von der Schulter streifen zu dürfen, während sie ihren Kopf
nach hinten legt. Für irgendwen da draußen lebte sie noch, als ferner, aber
lebendiger Traum. Er ahnte nichts von ihrem Ende. Ihr Abbild geistert noch
Wochen, Monate, Jahre mit Lichtgeschwindigkeit durchs All, bis es immer
schwächer wird und verlischt. Erst dann ist sie wirklich tot.
    Sie noch einmal sehen, nur noch ein letzter
Blick. Ich schloss die Augen und plötzlich war sie über mir, spürte, schmeckte
ich sie. Meine Schenkel spannten sich, ich bekam unwillkürlich eine Erektion
bei dem Gedanken an ihr Schlüsselbein, ihre Brüste. Das Nächste, was ich fühlte,
war die Kante des kleinen Metalltisches. Der Stuhl hatte nachgegeben und ich
war seitlich weggekippt. Der Bauch der leeren Weinflasche drückte auf meine
Rippen und etwas Hartes bohrte sich in mein Becken.
    Ich war so besoffen, dass ich gefühlte fünf
Minuten brauchte, bis ich Flasche, Tisch und meinen handlungsunwilligen Körper
voneinander gelöst hatte.
    Danach befahl ich meiner Hand, meine Tasche zu
durchsuchen. Wie schnell man doch die Kontrolle verliert, dachte ich, und
betrachtete Lilys Schlüsselbund. Der Doppelbartschlüssel war es, der sich in
meine Lenden gebohrt hatte. Zehn Meter bis zu Dusche, wenigstens das müsste
noch zu schaffen sein.

79
    Sonntag.
    Tarnowski saß auf dem kleinen Platz vorm U tri
Pstrosu. Trotz ungezählter Nächte in dem barocken Hotel neben der Karlsbrücke
wusste er immer noch nicht, was es mit den drei Straußenvögeln, die auf dem
Giebel prangten, auf sich hatte.
    Er beobachte den steten Touristenstrom, der
sich auf die Karlsbrücke ergoss. Prag, Berlin, Paris. Wo man auch hinkam, es
schien nur noch Touristen zu geben. Der Homo erectus hatte sich nach dem Homo politikus
in den Homo touristicus verwandelt. Schokoladenfarben und durchtrainiert oder
bleich mit Schwabbelbauch, gepierct mit tiefem Ausschnitt, allen war ein neuer
Lebenssinn eigen, jeden Winkel dieser Welt zu erkunden.
    Plötzlich ein Schatten. Ahrendt stand direkt
vor ihm, folgte kurz seinem Blick und ließ sich dann in den gegenüberstehenden
Sessel fallen.
    „Soviel junges Fleisch und alles umsonst!“
    Tarnowski nickte zustimmend, tiefe Falten unter
den Augen. Er hatte zuviel getrunken, zu wenig geschlafen.
    Ahrendt sah aus wie immer. Perfekt sitzender
Anzug, trotz brütender Hitze mit Krawatte.
    „Wir sollten ein paar Schritte gehen.“, der
Russe zog die Worte breit und erhob sich.
    Doch Ahrendt blieb sitzen: „Ich habe keine Zeit
für Spaziergänge!“, zischte er.
    Tarnowski beugte sich vor und inspizierte die
Umgebung: „Was soll die ganze Aufregung?“
    Ahrendts Lippen öffneten sich

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