Coltan
bewunderte sie deren
Kalkül.
Sie waren einander verwandt, waren beide in
einem Alter, in dem sie vor der Entscheidung standen, wie sie die nächsten
Jahrzehnte leben würden. Klassisch, mit Kind, Mann, dem Traum vom eigenen Häuschen.
Oder ungebunden. Nähe? Diese verführerische, schleichende Selbstaufgabe. Das
dauerhafte Ringen um den nächsten Kompromiss und am Ende dieses eigentümliche Wir ,
das den Einzelnen aufsog.
Auch Gallert war davor zurückgeschreckt.
Sie konnte sich gut vorstellen, wie sein Abend
verlaufen würde.
Ob es einen Mann gab in van Broikens Leben –
eine Frau? Unwahrscheinlich. Da war kein Platz für dauerhafte Rücksichtnahme.
Langsam rollte sie die Oranienburger entlang.
Menschenströme flossen über die Bürgersteige, der Wachschutz vor der Synagoge
wie eine Insel in einer fremden Welt. Mitten im Durcheinander die Angst vor dem Anschlag, die zehn Meter weiter schon niemanden mehr berührte. Als würden
Attentäter mit militärischer Präzision nur das Gebetshaus der Juden angreifen,
die daneben unter Schirmen Sitzenden jedoch aussparen. Da sah sie ihn. Sie
konnte ihn inzwischen mühelos unter Hunderten identifizieren. Wie er unschlüssig
die Schultern hob und senkte, sich mit der rechten Hand unter die linke Achsel
fuhr, um kurz darauf seinen Hinterkopf zu massieren. Sie kannte die Bar.
Mader hatte die Hand schon am Türöffner, da spannte
er sich plötzlich und verschwand Stufe um Stufe im Dämmerlicht.
96
Dienstag.
Der Lärm der Vögel auf den Friedhofsbäumen
hatte mich kurz nach sieben geweckt. Ich schlug mir drei Eier mit Speck in die
Pfanne. Im Kühlschrank gab es noch Milch, knapp über dem Haltbarkeitsdatum. Durch
die Straße zog ein kühlender Wind, der erste seit Tagen.
Langsam sortierte ich die vor mir liegenden Stunden:
der Rechtsanwalt, die Kollegen vom Missbrauch, Hanschke.
Den Memory-Stick hatte Mader an sich genommen.
Ich schickte ihr eine SMS, um ihr mitzuteilen,
dass ich als zuerst die Kanzlei aufsuchen würde. Neun Uhr, ich konnte mir Zeit
lassen.
Lily. Es war an der Zeit, ihre Beisetzung zu
organisieren. Hanschke fragen, wann er sie freigibt? Und dann?
Das Telefonbuch lag in der Diele. Ich suchte nach
einem Bestatter in Mitte. Kein salbungsvoller Ton, geschäftsmäßig, ohne falsches
Mitleid. Wir verabredeten uns für den späten Nachmittag.
Fünf Minuten nach neun stand ich vor einem weißen
stuckverzierten Bürgerhaus mit schmiedeeisernem Haustor. Eine breite Treppe
führte ins Hochparterre, wo die Kanzlei residierte. Falscher Marmor und ein
üppiges Deckengemälde, die vier Jahreszeiten als pralle Rubensmädchen.
Das polierte Namensschild: Prof.
Anselm-Gottfried zuSchenkendorff & Partner. Statt eines
Klingelknopfes ein Greifenkopf mit Klopfer. Ich wollte den glattgegriffenen
Messingring gerade anheben, da öffnete sich die Tür. Ein junger, schmaler Mann
mit Seitenscheitel und grauem Anzug stand im Türrahmen: „Sie haben einen
Termin?“
Er musterte mich, Sneakers, Jeans und
Leinenhemd, offensichtlich erweckte ich nicht den Eindruck eines potentiellen Klienten.
Nachdem er meinen Dienstausweis ausgiebig begutachtet hatte, bat er mich hinein.
„Sie haben eine Klientin. Lily Gormann.“
Er sah mich fragend an: „Selbst wenn es so
wäre. Wir unterliegen der Schweigepflicht.“ Was er meinte, war: Oder haben sie
euch das nicht beigebracht.
„Wo ist ihr Chef?“
„Herr Professor Schenkendorff hat eine
Besprechung.“
„Lange?“
„Ich könnte Ihnen einen Termin geben. Nächste
Woche Mittwoch vielleicht?“
Randlose Brille, die Augen zwei Schlitze und
der Mund nicht mehr als ein Strich.
„Wie wäre es, wenn Sie“, ich legte die Betonung
auf das SIE , „Herrn Professor Schenkendorff jetzt mitteilten, dass ich
hier bin, gern auf ihn warte, allerdings nicht besonders lange.“
Dann ließ ich mich geräuschvoll in einen der
tiefen Ledersessel fallen, zündete mir eine Zigarette an und begann, die Marseillaise
zu pfeifen.
Zögerlich verschwand er in einem dunklen Gang.
Kaum eine Minute später hörte ich schnelle
Schritte. Mit einem beflissenen Lächeln trat er aus dem Halbdunkel und war wie
ausgewechselt.
„Herr Professor Schenkendorff bittet Sie um
einen Moment Geduld. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder einen Espresso
bringen?“
„Espresso und ein Glas Wasser. Bitte.“
Das Kerlchen verschwand geräuschlos und kam
gleich darauf mit einem Tablett zurück. Ein suchender Blick, dann förderte er
aus den Tiefen des Empfangstresens
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