Commissaire-Llob 1 - Morituri
Prophet. Er betrachtet die
Welt so wie man jemanden ansieht, den man gut
kennt. Er weiß immer, woher der Wind weht, wo-
hin der Sturm zieht, und vor allem weiß er, daß
man nichts dagegen unternehmen kann.
Er wohnt am Ende eines Geisterdorfes östlich
von Algier. Ein Kaff, in eine Biegung der Küste
geduckt und so abweisend, daß es sogar die Terro-
risten in Ruhe lassen.
Früher einmal war es ein hübsches Dorf, das die
wohlhabenden Siedler aus der Mitidja-Ebene an-
zog. Es wimmelte von farbenfrohen Sonnenschir-
men, die Eisverkäufer boten Zitronenlimonade in
turmhohen Gläsern an, das städtische Orchester
spielte auf dem Hauptplatz Tino-Rossi-Melodien,
und die jungen Mädchen ließen kichernd die Ne-
ckereien der Gecken aus der Stadt über sich erge-
hen.
Dann kam der Krieg und die Geranien ver-
schwanden. Nichts ist geblieben von diesem Hafen
der Lebensfreude als ein Haufen schmuddliger
Häuser, eine Hauptstraße voller Schlaglöcher und
das Gefühl völliger Nutzlosigkeit.
Einige wenige Fischer klammern sich noch an
einen Hafenwall, von dem sich die Fluten längst
zurückgezogen haben und der bald von verfaulen-
dem Schilf überwuchert sein wird.
Da Achour haust in einem Elendsloch am Ende
eines Weges zwischen einer vernachlässigten He-
cke und einem lethargischen Hundepärchen. Wären
da nicht ein Stück Meer statt des Horizonts und
eine Felsplatte als einzige Anlegestelle, man könn-
te glauben, in der Vorhölle zu sein.
Da Achour verläßt niemals seinen Schaukelstuhl.
Der ist bei ihm fast schon ein natürlicher Körper-
fortsatz. Eine Zigarette im Mundwinkel, den Bauch
über seinen Schildkrötenknien, fixiert er unermüd-
lich einen vagen Punkt auf hoher See. Von mor-
gens bis abends sitzt er so da, am Rande des Halb-
schlafs, in den ihn die Lieder El Ankas begleiten,
und läßt friedlich sein achtzigstes Jahr in einem
frustrierenden Land verstreichen. So manchen
Krieg hat er mitgemacht, von der Normandie bis
Dien Bien Phu, von Guernica bis zu den Djurdjura-
Bergen, und er versteht bis heute nicht, warum die
Menschen sich noch immer die Köpfe einschlagen,
wo schon ein einfacher Rausch sie einander näher
brächte.
Heute zerbricht sich Da Achour nicht mehr den
Kopf darüber. Er wartet von Brandungswelle zu
Brandungswelle auf das Erscheinen der Dame mit
der Silbersichel. Seine Frau ist vor mehr als zwan-
zig Jahren gestorben, Nachkommen hat er keine,
und er wäre überhaupt nicht traurig, wenn es dem
Höchsten gefiele, ihn zu sich zu rufen.
Ich treffe Da Achour auf der Veranda an, die Füße
auf dem Teetischchen, den Blick in die Ferne ge-
richtet. Sein feuerroter Nacken zittert beim Ge-
räusch meiner Schritte. Er macht sich nicht die
Mühe umzuschauen, als ich mich auf einem Feld-
bett in Nähe der Brüstung niederlasse.
Es dauert eine Weile, bis er, durch mein Seufzen
gereizt, endlich brummt: „Du hast deine Berufung
verfehlt, Llob.“
„Lino sagt immer, aus mir wäre ein guter Thea-
ter-Souffleur geworden“, stimme ich zu.
„Oder ein miserabler Fernseh-Zuschauer.“
„Ah ja?“
„Weil du alles schwarz siehst.“
Ich folge eine Weile dem torkelnden Flug eines
Schmetterlings, dann bleibt mein Blick wieder am
faltigen Genick des Alten hängen.
„So lustig ist das nicht, Da.“
„Du bist nicht der Messias.“
„Aber ich mache mir Sorgen.“
„Es hilft dir gar nichts, wenn du dich verrückt
machst.“
Ich stütze mich auf den Ellenbogen und kontere:
„Du bekommst hier in deinem Rattenloch nicht
viel mit, Da.“
„Wer aus der Ferne zusieht, hat den besseren Ü-
berblick.“
„Man kann doch nicht einfach zusehen, wie das
ganze Land zum Teufel geht.“
„Alles Biologie. Die Welt macht gerade die
Wechseljahre durch. Wir treten in eine ekstatische
Ära ein, das Jahrtausend der Gurus. Die Zivilisati-
onen werden hinweggefegt, die Geschichte kehrt
an den Nullpunkt zurück. Die Grenzen werden
fallen, die Rassen werden verschwinden, auch die
Grundwerte werden verlorengehen. Es wird keine
Vaterländer und keine Nationalhymnen mehr ge-
ben, nur noch dunkle Bruderschaften und obskure
Beschwörungsformeln. Die Erde wird von den
eitrigen Fangarmen der Sekten überzogen werden,
ihr Antlitz von Fakiren und selbsternannten Pro-
pheten entstellt, Anarchie zieht in die Häuser ein.
Adieu ihr Monarchen, adieu ihr Präsidenten, adieu
ihr Wahlen und Wahlgesetze. Die Menschen wer-
den unter Marabout-Lehrlingen ihre
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