Commissaire-Llob 1 - Morituri
Arbeit.“
„Daran zweifle ich nicht.“
Wortlos schauen wir uns an. Schließlich breite
ich die Arme aus, und er schmiegt sich an mich. Er
hat sehr abgenommen, mein Großer.
Mina ist vom Weinen ganz naß. Eine Mutter ver-
gießt in Freude und Schmerz die gleichen Tränen.
Er nimmt seine Koffer. Ein furchtbarer Augen-
blick. Ein Teil meines Fleisches löst sich von mir.
Ich fühle mich schwach.
„Ruf von Zeit zu Zeit mal an.“
„Versprochen.“
Er geht noch einmal auf seine Mutter zu, umarmt
und küßt sie zum Abschied. Löst sich von ihr. Si-
cher, die Flut wird uns ein paar Muscheln an-
schwemmen, an denen sich unsere Erinnerung
festhalten kann, doch das, was sie uns nimmt, ist
unersetzlich.
„Paß auf dich auf, mein Sohn.“
Er nickt.
Ein kleines Lächeln, und der Aufzug entführt ihn
unseren Blicken.
Nie spürt man eine tiefere Resignation, als wenn
sich eine Tür hinter jemandem schließt, der uns im
gleichen Moment schon fehlt, da er uns verläßt.
9
Aus purem Zufall platzen Lino und ich in ein wil-
des Durcheinander in der Cité des Oliviers. Nicht
weniger als fünf Polizei- und zwei Zellenwagen
mit wild blinkenden Blaulichtern und zersplitterten
Fensterscheiben stehen um den Rohbau einer Villa.
In der Deckung einer Motorhaube sitzt schwit-
zend Inspektor Serdj, in einer Hand einen Laut-
sprecher, in der anderen eine Pistole. Bei meinem
Anblick ist er so unglaublich erleichtert, als hätte
mich der Himmel geschickt.
„Was ist los?“ frage ich, während ich mich an
seine Seite drücke.
„Eine Bande von Terroristen hat die Post von
Bab Llyb überfallen. Ein Anrainer hat gesehen,
was passierte, und uns gleich alarmiert.“
„Wie viele sind es?“
„Drei. Sie haben eine Geisel umgebracht“ – er
zeigt auf die Leiche eines Jugendlichen neben einer
Betonmischmaschine – „und einen meiner Leute
verletzt.“
Ich ziehe die Pistole und stelle das Periskop auf,
um das Gelände zu erkunden. Eine Salve zer-
schmettert die Windschutzscheibe über meinem
Kopf.
„Sind sie schon lange da drinnen?“
„Ungefähr eine Stunde. Sie wollen sich nicht er-
geben. Eine von ihnen ist ein Mädchen.“
„Halten sie noch andere Personen fest?“
„Den Maurer und seinen Sohn.“
„Bewaffnung?“
„Zwei Kalaschs und eine Pumpgun.“
Leutnant Chater aus der Ninja-Einheit robbt zu
uns her.
„Willkommen auf dem Schrottplatz, Kommis-
sar.“
„Wie sieht’s denn aus?“
„Die sind stoned. Wir können sie kriegen. Ich
habe zwei Scharfschützen dort drüben postiert,
einen auf dem Dach und zwei weitere da oben.“
„Du hättest noch einen weiteren für dort drüben
hinstellen können“, bemängle ich, eigentlich nur,
um meine Autorität zu unterstreichen.
„Toter Winkel.“
Aus einem der Fenster beginnt Rauch aufzustei-
gen.
„Sie verbrennen gerade das Geld aus der Post“,
erklärt mir Chater.
„Diese Mistkerle! Womit sollen wir jetzt die
Schulden beim Internationalen Währungsfonds
zurückzahlen?“
Ich greife zum Lautsprecher.
„Sie vergeuden nur Ihre Zeit, Kommissar.“
„Nur, damit ich nachher kein schlechtes Gewis-
sen habe.“
Wir werden von neuem unter Beschuß genom-
men. Die Autos scheppern unter den Einschlägen.
„He, Taghout*!“ schreit das Mädchen. [* Arabisch für Diktator. Wird von den Islamisten für alle Angestellten der Regierung verwendet, bis hin zu den kleinsten Polizisten.]
„Wir haben einen Alten und seinen Bastard hier.
Entweder ihr verschwindet, oder wir kastrieren sie,
dann schneiden wir ihnen die Finger ab, danach die
Ohren und die Zehen, bis nichts mehr da ist, was
man abschneiden könnte. Wenn ihr in fünf Minu-
ten noch da seid, wandert der erste in den Koch-
topf.“
„Die machen keinen Spaß.“ Serdj gerät in Panik.
„In weniger als fünf Minuten werden sie der ersten
Geisel die Knochen auslösen.“
„Die werden wir uns doch nicht durch die Lap-
pen gehen lassen!“ empört sich Chater. „Das sind
wandelnde Henker.“
„Vier Minuten fünfundvierzig. Wir müssen uns
beeilen, Leute.“
Ich gebe Lino ein Zeichen. Er springt aus dem
Auto und legt einen überraschend schnellen Slalom
hin. Hinter einem Reifen geht er in Deckung.
„Vier Minuten dreißig!“
„Halts Maul, Serdj! Wir sind hier nicht bei der
NASA.“
Kleine Schweißperlen rollen über die Stirn des
Inspektors. Seine Backenknochen zittern und zu-
cken. Er verschluckt fast seine Zunge und sieht
pausenlos auf
Weitere Kostenlose Bücher