Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Er ist ü-
berzeugt, daß die Grundwerte allein von einem
abhängen: dem Börsenbarometer. Daher bewegt
der Tod eines Gelehrten, der Brand einer Biblio-
thek oder der Mord an einem Künstler die Herzen
sehr viel weniger als eine unprofitable Geldanla-
ge.“
„Wenn ich dich recht verstehe, soll ich jetzt wohl
auch diesen Kurs einschlagen.“
„Ganz und gar nicht. Genau hier trittst du ja auf
den Plan.“
„Als Spielverderber …“
„Der Dichter ist kein Brandstifter, doch sein
Kummer wirkt wie eine Katharsis. Dein Buch sagt
die Wahrheit. Das zählt mehr als alles andere. Der
ganze Rest: der Ärger, den du hast, die Anwürfe
und Drohungen, kurz, das ganze wilde Gefuchtel,
das du auslöst, das darf dich nicht einschüchtern.
Dieser grauenhafte Krieg hat zumindest ein Gutes:
Er reißt uns die Maske vom Gesicht. Erst vor uns
selbst, dann vor der Welt. Jeder suhlt sich in sei-
nem Element. Die Demagogen geifern vor Eifer,
die Intriganten werfen alle Hemmungen über Bord,
und die Aasgeier müssen nicht mehr so tun, als
stamme das Fleisch ihrer Brüder, über die sie her-
fallen, vom Metzger. Die Monster, die in uns ge-
schlafen haben, stolzieren schamlos vor aller Au-
41
gen einher. Und über diesem ganzen stinkenden
Morast, da schwebst du. Wie ein Gott, der seine Welt überblickt, es ist fabelhaft. Hättest du nicht gewagt, deine Wut und deinen Abscheu laut hi-nauszuschreien, hättest du dich geduckt, damit die-
se Mistkerle ungestraft ihre Phantasien ausleben
können, wäre ich furchtbar enttäuscht gewesen.“
Plötzlich verfärben sich seine Hängebacken feu-
errot.
„Hör auf, wie ein getretener Hund dreinzuschau-
en, Brahim, und zwar sofort. Oder kannst du mir
unter den Tausenden von Opfern, mit denen die
Wege unseres Wahnsinns gepflastert sind, auch nur
eines nennen, das es verdient hätte, wie ein Tier
abgeschlachtet zu werden? Kannst du mir in der
ganzen Horde gottloser Kannibalen auch nur einen
zeigen, der es wert wäre, daß man ihm verzeiht?
Du hast dir nichts vorzuwerfen. Sie haben dich vor
die Tür gesetzt, na und? Tausend andere Türen
stehen dir offen, und meine zuallererst. Du hast
deine Pflicht gewissenhaft erfüllt. Du warst erfolgreich! Diese Hurensöhne wissen das, deshalb zit-
tern sie jetzt. Sie hielten sich für gerissener, sie dachten, es wäre ihnen das perfekte Verbrechen
gelungen. Aber das Böse ist nie vollkommen.
Vollkommenheit gibt es nur im Zusammenhang
mit der Gerechtigkeit.“
Er unterbricht sich, ist völlig atemlos, sinkt mit
hervortretenden Augen und schäumenden Lippen
in seinen Korbstuhl zurück. Während sein Bauch
42
sich heftig hebt und senkt, verliert sein Blick sich zwischen den Schaumkronen im Meer. Ich nehme
weder das Kindergeschrei noch das Klatschen der
Wellen wahr; ich höre allein das Quietschen des
Schaukelstuhls, der aufs neue zu schwingen be-
gonnen hat. Zwei Minuten schwebe ich in einer
Luftblase, als hätte mir einer einen Schlag in den
Nacken verpaßt, dann spüre ich wieder Bodenhaf-
tung, unbestimmt erleichtert durch Da Achours
Abgeklärtheit. Nehme plötzlich wachen Sinnes den
Luftzug wahr, der sein Hemd leise bläht, den
Schweiß, der um seinen Nabel perlt, den Schatten
um seine Augen und dazu diese Unbekümmertheit,
die von seinen schlenkernden Armen ausgeht und
mich, als wär’s ein Zeichen, ermutigen will, die
Dinge mit größerer Gelassenheit anzugehen.
„Danke“, sage ich.
5
„Dein Pech, wenn du dich über meinen Besuch
nicht freust!“ schleudert Dine mir entgegen und
fährt wie ein Tornado zur Tür herein. „Zwei volle
Stunden habe ich im Café gewartet, und wer nicht
kam, warst du. Da gibt’s nur zwei Möglichkeiten,
habe ich mir gesagt: Entweder der Vollidiot hat in
seinem Badezimmer Harakiri begangen, oder ich
bin sein alter Kumpel nicht mehr. Ich bin herge-
43
kommen, um mir Klarheit zu verschaffen.“
Er schiebt mich mit der Hand zur Seite, inspiziert
die Zimmer, kommt zurück und drängt mich durch
den Korridor.
„Auf den ersten Blick“, stellt er fest, „kein Grund zur Panik. Keine demolierten Möbel, keine zer-schlagenen Fensterscheiben. Was beweist, daß du
hart im Nehmen bist, worüber ich froh bin … Und
jetzt?“ fügt er hinzu und breitet die Arme aus,
„wollen wir hierbleiben und Trübsal blasen, oder
wollen wir lieber essen gehen?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, nimmt er mei-
ne Jacke vom Stuhl und drückt sie mir in die Hand
…
Weitere Kostenlose Bücher