Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
euch heutzutage Klassenfahrten?“
„Na und ob! Wir versuchen, unseren Kindern ein
möglichst normales Leben zu bieten.“ Seine Hand
krampft sich ums Steuer. „Vorher waren das keine
Kinder mehr. Ihr hättet sie sehen müssen, wie sie
in den Ecken kauerten, zitternd und verstört, sie
brüllten schon los, wenn man sie nur ansah. Wie
verängstigte Tiere. Ein knatternder Auspuff löste
die wildeste Panik aus. Unmöglich, sie in diesem
Zustand zu lassen. Sie wären früher oder später
verrückt geworden. Mein Junge fing zu weinen an,
sobald ich nur im Nebenzimmer verschwand, um
etwas zu holen. Er klammerte sich Tag und Nacht
an meinen Schatten. Wir haben die Hölle hinter
uns.“
151
Sein Ton wird aufgeräumter, als wir auf freies
Feld gelangen: „Hier wollen wir ein Jugendhaus
bauen und vielleicht sogar ein kleines Stadion mit
einer offiziellen Tribüne und Stufenreihen. Wir
haben eine Menge Projekte für unsere Gemeinde.
Das ist unsere Art, die Herausforderung anzuneh-
men. Wir bauen auf, was der Fundamentalismus
zerstört hat, und gewinnen täglich Terrain hinzu.
Die beste Verteidigung ist noch immer der Angriff,
hat der Capitaine gesagt.“
Der Wagen poltert krachend in eine Ackerfurche.
Mohand reißt schnell das Lenkrad herum, um nicht
im Graben zu landen.
„Du hast es selbst gesagt, Brahim: ‚Wenn du ein
Problem hast, ist es dein Problem.’ Wer soll uns helfen, wenn nicht wir uns selbst. Und bisher
klappt es ganz gut.“
Da taucht Idirs Haus hinter den Bäumen auf, ver-
hutzelt und pittoresk mit seinem Schieferdach und
seinen Mauern aus Lehm und Stroh.
Ich rüttele Arezki wach. Der Maler schreckt hoch
und hampelt auf der Suche nach dem Türgriff wild
herum, ohne fündig zu werden. Mohand springt
heraus, eilt auf die andere Seite, um ihm den Wa-
genschlag zu öffnen und stützt Arezki mit beiden
Händen.
„Der ist fertig“, sage ich. „Wird nicht mehr lange
dauern, und wir müssen ihm bei seinen rituellen
Waschungen helfen.“
„Die Luft seiner geliebten Berge wird ihn schnell
152
wieder auf die Beine bringen“, verheißt Mohand
und schiebt seine Arme unter den ungelenken Kör-
per des Greises. „Wir werden ihn hätscheln und
päppeln.“
Ich mache das Licht im Schlafraum an. Mohand
legt seine Last auf einer Matratze nieder, zieht A-
retzki die Schuhe aus und deckt ihn zu.
„Ein hübsches Leichentuch!“ unke ich.
„Ich an deiner Stelle würde es machen wie er. Ich
würde mit Madame und den Kindern in den Schoß
der Sippe zurückkehren und alles andere vergessen
… Jetzt muß ich aber los. Im Kühlschrank sind
Getränke, und da im Schlauch ist frisches Quell-
wasser.“
„Du hast nicht zufällig ein oder zwei Zigaretten
übrig? Ich habe meine Vorräte beim Bürgermeister
aufgebraucht.“
Er reicht mir eine Packung Rym. „Kannst du be-
halten.“
Plötzlich geht er nah ans Fenster heran und
horcht.
„Was ist denn los?“
Seine Hand bedeutet mir zu schweigen. Ich spitze
die Ohren. Außer Grillenzirpen und dem Gesäusel
des Windes höre ich nichts Besonderes. Mohand
geht in den Hof hinaus, klettert auf einen Steinhaufen und horcht in die Ferne, die Hand wie einen
Trichter ums Ohr gelegt.
Ganz fern, von den Windstößen verfälscht, ein
Knattern …
153
„Schüsse?“
„Pst!“
Eine einzelne, kaum hörbare Detonation, dann
eine Salve von Feuerstößen …
„Das ist sicher die Patrouille von Sidi Lakhdar,
die einen Zusammenstoß mit einer Gruppe Terro-
risten hat.“
„Ich habe vorhin alles mit den Soldaten durchge-
checkt. Die Dorfwachen waren um null Uhr zwan-
zig zurück in ihrem Quartier.“
Die Schüsse werden lauter, aber es ist unmöglich,
sie in der Dunkelheit zu orten.
Da kommt ein Lastwagen ohne Licht vom Dorf
herauf. Mohand läuft querfeldein, um ihn abzufan-
gen.
Als er zurückkommt, ist er blaß. „Das ist Aldis
Gruppe. Sie fahren zu Punkt 21.“
„Was ist los?“
„Angriff auf Imazighène!“
Eiswasser peitscht mir den Rücken entlang. In
meinem Geist blitzt das gepeinigte Gesicht der
alten Taos auf. Meine Knie werden weich, mein
Herz hämmert wie wild gegen mein Brustbein.
„Diese Feiglinge!“ schreie ich.
„Die Feigheit ist algerisch. Die Tapferkeit ist al-
gerisch. Für beide zusammen hat dieses Land kei-
nen Platz. Wir sind entschlossen, den Teufel zur
Strecke zu bringen, wenn nötig in der Hölle.“ Er
springt in seinen Wagen. „Du bleibst hier,
Weitere Kostenlose Bücher