Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
weiß er. Das ist ihm klar ge-
worden, sobald er mich gesehen hat. Er weigert
sich nur, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Sein
Finger fährt nervös über den Schnurrbart, bleibt an einem Pickel im Mundwinkel hängen. Neben uns
landet ein Sperlingspärchen, vergnügt sich ein
Weilchen am Fuß eines Baums und schwingt sich
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dann in schwindelerregenden Spiralen in den
Himmel hinauf.
Lino räuspert sich, zaudert noch ein wenig, dann
bricht es aus ihm heraus: „Ewegh hat mir eine
phantastische Nachricht überbracht … Ich hoffe,
du hast nicht gerade alles wieder kaputtgemacht.“
„Tut mir leid.“
Er wirft den Kopf in den Nacken. Am strahlend
blauen Himmel spielen die zwei Spatzen Fangen,
trennen sich, verfolgen einander und finden im
gleißenden Licht des Tages wieder zusammen.
Lino sitzt mit verkniffenen Lippen da. Nach einem
endlosen Schweigen sagt er schluckend: „Ich habe
es ja geahnt. Wenn einer mehr Stolz als gesunden
Menschenverstand hat …“
„Für beides gibt es in diesem Land keine Ver-
wendung mehr.“
Sein Blick schweift hoch zum Wipfel der Plata-
ne, über die Umfassungsmauern, hin zu den Gene-
senden, die über die verbrannte Erde schlendern.
Er ballt die Faust. Ein paar Tische weiter dudelt
hawzi -Musik* [* Algerische Musikrichtung, die aus dem klassischen und volkstümlichen Repertoire gleichzeitig schöpft] aus dem Transistor und füllt die Luft mit schwerer Melancholie.
„Deine Entscheidung ist … unwiderruflich?“
„Das ist keine Kurzschlußhandlung, Lino. Ich
habe es mir reiflich überlegt, Für und Wider sorg-
sam gegeneinander abgewogen, alles bis ins Detail
durchdacht …“
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Seine Faust knallt auf die Lehne nieder. „Schei-
ße! Das wird der reinste Saftladen …“
„So darfst du nicht reden. Die Guten gehen, die
Besseren rücken nach …“
„Jetzt redest du schon wie diese Idioten von Ab-
geordneten.“
„Hör doch …“
„Stop! Bitte mach’s nicht noch schlimmer. Das
war doch schon dein letztes Wort. Es reicht, glaub
mir.“
„Lino …“
„Was Lino? Du mußt dich nicht rechtfertigen. Du
hast beschlossen auszusteigen, bitte, das ist dein
gutes Recht. Was auch immer du jetzt noch sagst,
es wäre pure Heuchelei. Und außerdem, wer bin
ich denn, um dich zur Rechenschaft zu ziehen?
Wer bin ich schon, kannst du mir das mal sagen?
Du hast deine Gründe, ist doch klar. Du bist frei zu handeln, wie es dir beliebt. Allerdings wäre es an-gebrachter, wenn du sie für dich behieltest, deine
guten Gründe, findest du nicht? Es wäre anständi-
ger, angemessener … Die anderen, was geht die
das denn an? Die anderen, die können dich mal.“
Er schiebt sich die Krücke unter die Achsel, lehnt
schroff jede Hilfe ab und steht auf. Seine Lippen
beben. Er merkt, daß Worte seinem Groll nicht
gerecht werden können und verzichtet darauf, mir
noch weiter welche entgegenzuschleudern. Er zürnt
mir so sehr, daß er so tut, als hätte er die Schweizer Schokolade vergessen, die ich extra für ihn gekauft 173
habe. Er dreht sich nicht einmal um, während er
sich immer weiter entfernt, einem großen Portal
hinten im Hof entgegen.
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Alle sind sie gekommen: die Freunde und Sympa-
thisanten, die Orthodoxen und die Protestler … Sie
stehen dichtgedrängt, um sich einen Logenplatz zu
sichern, die einen, weil es was zu gaffen gibt, die anderen, um denen, die nicht da sind, was voraus
zu haben. Der große Konferenzsaal im Unterge-
schoß der Zentrale ist brechend voll. Es ist ein historischer Augenblick. Sie werden dabeisein, wenn
man eine Legende entmystizifiert, ein freches
Mundwerk stopft, einen taktlosen und rettungslos
rückfälligen Polizeikommissar endlich aus dem
Dienst entläßt.* [* Die meisten der im folgenden erwähnten Personen, Gegner oder Freunde von Llob, spielen in
„Morituri“ und/oder „Doppelweiß“ eine Rolle.]
Sogar Haj Garne ist da. Hat ihn Überwindung
gekostet, sich seinem Serail der Lesben und
Schwuchteln zu entziehen, aber gekommen ist er.
Um nichts in der Welt würde er das verpassen wol-
len. Hämisch leckt er sich sein fransiges Maul,
fährt wieder und wieder mit seiner belegten Zunge
darüber, um sein Aspiklächeln zu schmieren. Er
fühlt sich wie im Himmel: Eine reife Leistung für
einen alten Faun, der sich im allgemeinen in den
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stinkenden Abgründen der Gosse suhlt.
Gleich neben ihm Sofiane Malek, der nur so
schlottert vor Glück. Das liebe Miststück,
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