Commissario Montalbano 02 - Der Hund aus Terracotta
auch
nicht im entferntesten mit dem Gefängnis vergleichen, in dem
ich meine Tage verbringe. Und »Gefängnis« ist wirklich nicht
übertrieben. Die Bewachung durch Papa ist erstickend,
außerdem ist das Leben in so einem winzigen Dorf eintönig
und stumpfsinnig. Stell Dir vor, letzten Sonntag nach der
Kirche hat mich ein Junge gegrüßt, den ich nicht mal kenne.
Papa hat es mitgekriegt, ihn auf die Seite genommen und ihm
eine geknallt. Das ist doch verrückt! Nur am Lesen habe ich
Freude. Mein bester Freund ist Andreuccio, der zehnjährige
Sohn meines Cousins. Er ist intelligent. Hättest Du je
geglaubt, daß Kinder viel witziger sein können als wir?
Liebste Angelina, seit ein paar Tagen bin ich verzweifelt. Ich
habe – auf so abenteuerlichem Wege, daß es zu lang dauern
würde, Dir das zu erklären – einen kurzen Brief mit ein paar
Zeilen von Ihm, Ihm, Ihm bekommen: Er schreibt, daß er
verzweifelt ist, daß er es nicht mehr aushält, mich nicht zu
sehen, daß sie jetzt, nachdem sie so lange in Vigàta gewesen
seien, den Befehl bekommen hätten, in wenigen Tagen
aufzubrechen. Ich bin todunglücklich, wenn ich ihn nicht
sehen kann. Bevor er abreist, muß, muß, muß ich wenigstens
ein paar Stunden mit ihm verbringen, auch wenn ich dafür
etwas Verrücktes tun muß. Ich schreibe Dir bald wieder und
umarme Dich ganz fest.
Deine Lisetta
»Sie haben also nie erfahren, wer dieser ‚er’ war?« fragte
der Commissario.
»Nein. Sie wollte es mir nicht sagen.«
»Und nach diesem Brief haben Sie keine weiteren
bekommen?«
»Sie sind gut! Es ist schon ein Wunder, daß ich diesen
hier bekommen habe, in den Tagen damals war die Straße von
Messina nicht befahrbar, sie wurde ununterbrochen
bombardiert. Dann sind am neunten Juli die Amerikaner
gelandet, und die Verbindung war endgültig abgebrochen.«
»Signora, erinnern Sie sich an die Adresse Ihrer Freundin
in Serradifalco?«
»Natürlich. Bei der Familie Sorrentino, Via Crispi 18.«
Montalbano wollte gerade den Schlüssel ins Schloß stecken,
als er aufhorchte. Im Haus waren Stimmen und Geräusche zu
hören. Er dachte daran, zum Auto zu laufen und seine Pistole
zu holen, tat es dann aber doch nicht. Vorsichtig öffnete er die
Tür, ohne das geringste Geräusch zu machen.
Da fiel ihm ein, daß er Livia völlig vergessen hatte, die
schon, wer weiß wie lange, auf ihn wartete.
Er brauchte die halbe Nacht, um Frieden zu schließen.
Um sieben Uhr morgens stand er leise auf, wählte eine
Nummer und flüsterte ins Telefon. »Fazio? Du mußt mir einen
Gefallen tun. Melde dich krank.«
»Kein Problem.«
»Ich brauche bis heute abend den kompletten Lebenslauf
eines gewissen Stefano Moscato, der hier in Vigàta vor etwa
fünf Jahren gestorben ist. Hör dich im Dorf um, schau in der
Kartei oder sonstwo nach. Es ist dringend.«
»Alles klar.«
Er legte auf, nahm Papier und Stift und schrieb:
Liebling, ich muß dringend weg und will Dich nicht
wecken. Am frühen Nachmittag bin ich bestimmt wieder
zurück. Warum nimmst Du nicht ein Taxi und schaust Dir die
Tempel noch mal an? Sie sind immer großartig. Kuß.
Er schlich sich wie ein Dieb davon – wenn Livia
aufwachte, käme er in Teufels Küche.
Anderthalb Stunden brauchte er bis Serradifalco; es war ein
schöner Tag, und er pfiff gutgelaunt vor sich hin. Er mußte an
Caifas denken, den Hund seines Vaters, der meistens
gelangweilt und trübsinnig durchs Haus schlich, aber sofort
munter wurde, wenn er mitkriegte, wie sein Herrchen sich an
seinem Gewehr zu schaffen machte, und sich in ein
Energiebündel verwandelte, wenn es dann auf die Jagd ging.
Die Via Crispi fand er sofort, das Haus Nummer 18 war ein
zweistöckiger palazzetto aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Auf dem Klingelschild stand »Sorrentino«. Ein nettes
Mädchen um die Zwanzig fragte ihn, was er wünsche.
»Ich würde gern mit Signor Andrea Sorrentino sprechen.«
»Das ist mein Vater. Sie finden ihn im Rathaus.«
»Arbeitet er dort?«
»So ungefähr. Er ist Bürgermeister.«
»Natürlich erinnere ich mich an Lisetta«, sagte Andrea
Sorrentino. Er sah jung aus für seine mehr als sechzig Jahre,
kaum ein weißes Haar, eine stattliche Erscheinung.
»Warum fragen Sie nach ihr?«
»Es geht um einen Fall, in dem äußerst diskret ermittelt
wird. Tut mir leid, daß ich Ihnen nichts sagen kann. Aber Sie
können mir glauben, daß jeder Anhaltspunkt sehr wichtig für
mich ist.«
»Schon gut,
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