Commissario Montalbano 04 - Die Stimme der Violine
Leben, das sie führt! Sie kommt spät zurück, steht spät auf -«
»Das wissen wir schon. Kennen Sie sie gut?«
»Natürlich. Seit sie das erste Mal mit ihrem Mann herkam.«
»Können Sie mir was über ihren Charakter sagen?«
»Wissen Sie, sie hat nie Scherereien gemacht. Sie war nur auf eines fixiert: auf ihre Ordnung. Wenn wir ihr Zimmer sauber machten, hat sie aufgepasst, dass jedes Ding wieder an seinen Platz kam. Die Zimmermädchen der Vormittagsschicht schickten ein Stoßgebet zum Himmel, bevor sie mit der Arbeit in der Hundertachtzehn anfingen.«
»Eine letzte Frage: Haben Ihre Kolleginnen von der Vormittagsschicht Ihnen jemals gesagt, dass die Signora nachts Besuch von einem Mann hatte?«
»Nein, nie. Und wir haben einen Blick für so was.«
Während der gesamten Rückfahrt nach Vigàta beschäftigte den Commissario eine Frage: Wenn die Signora eine Ordnungsfanatikerin war, warum war dann das Bad in der Villa in Tre Fontane, wo sogar der rosa Bademantel einfach achtlos auf den Boden geworfen war, so unordentlich?
Beim Abendessen (fangfrischer Kabeljau, mit zwei Lorbeerblättern gegart und am Tisch mit Salz, Pfeffer und Öl aus Pantelleria gewürzt, und ein Teller zartes tinnirùme, das angetan war, Magen und Darm zu neuem Leben zu erwecken) unterrichtete der Commissario Signora Vasile Cozzo vom Stand der Dinge.
»Ich glaube zu verstehen«, sagte Signora Clementina, »dass die eigentliche Frage folgende ist: Warum hat der Mörder die Kleider, den Slip, die Schuhe und den Beutel der Ärmsten mitgenommen?«
»Già«, lautete Montalbanos Kommentar, weiter sagte er nichts. Er wollte den Gedankenfluss der Signora nicht stören, die das Problem auf Anhieb erfasst hatte.
»Über solche Dinge«, sagte die alte Dame, »weiß ich vom Fernsehen ein bisschen Bescheid.«
»Lesen Sie keine Krimis?«
»Selten. Und was ist überhaupt ein Krimi? Was ist eine Detektivgeschichte?«
»Na ja, es gibt eine eigene literarische Gattung, die …«
»Natürlich. Aber ich mag keine Etiketten. Soll ich Ihnen einen schönen Krimi erzählen? Also, da wird ein Mann, nachdem er viele Abenteuer erlebt hat, Oberhaupt einer Stadt. Doch nach und nach erkranken seine Untertanen an einem mysteriösen Leiden, einer Art Pest. Dieser Signore fängt also an nachzuforschen, um die Ursache der Krankheit herauszufinden. Er forscht und forscht und entdeckt dabei, dass er selbst die Wurzel des Übels ist, und bestraft sich.«
»Ödipus«, sagte Montalbano mehr zu sich selbst.
»Ist das nicht eine schöne Detektivgeschichte? Aber zurück zu unserem Thema. Warum nimmt ein Mörder die Kleider seines Opfers mit? Die erste Antwort lautet: Damit es nicht identifiziert werden kann.«
»Das trifft in unserem Fall nicht zu«, sagte der Commissario.
»Stimmt. Doch wenn wir in dieser Richtung überlegen, kommt es mir vor, als folgten wir der Fährte, auf die uns der Mörder setzen will.«
»Wie meinen Sie das?«
»Lassen Sie es mich erklären. Wer all die Sachen mitgenommen hat, will uns glauben machen, dass jedes einzelne Stück von diesen Sachen gleichermaßen wichtig für ihn ist.
Wir sollen die Sachen als ein Ganzes betrachten. Aber das ist es nicht.«
»Già«, sagte Montalbano noch mal; er empfand immer tiefere Bewunderung und fürchtete immer mehr, mit irgendeiner unpassenden Bemerkung den Faden dieser Gedankengänge zu zerreißen.
»Dabei ist allein der Beutel wegen der Juwelen, die er enthält, eine halbe Milliarde wert. Wenn also ein gewöhnlicher Dieb den Beutel gestohlen hat, dann heißt das für ihn, dass er sein Tagwerk erledigt hat. Richtig?«
»Richtig.«
»Aber was hat ein gewöhnlicher Dieb für ein Interesse daran, die Kleider mitzunehmen? Gar keines. Wenn er also Kleider, Slip und Schuhe mitgenommen hat, denken wir natürlich, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Dieb handelt. Aber es ist ein gewöhnlicher Dieb, der bezweckt, für einen nicht gewöhnlichen, einen andersartigen Dieb gehalten zu werden. Warum? Vielleicht hat er es getan, um die Karten zu mischen, er wollte den Beutel stehlen, der natürlich wertvoll ist, aber er hat einen Mord begangen und deshalb versucht, sein wahres Ziel zu kaschieren.«
»Richtig«, sagte Montalbano, ohne gefragt worden zu sein.
»Also weiter. Vielleicht hat der Dieb noch andere Wertsachen aus der Villa mitgenommen, von denen wir gar nichts wissen.«
»Kann ich mal telefonieren?«, fragte der Commissario, dem plötzlich etwas eingefallen war.
Er rief in Montelusa im Jolly an
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