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Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen

Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen

Titel: Commissario Montalbano 05 - Das Spiel des Patriarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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ins Auto und fuhr Richtung Montelusa. Genau auf halbem Weg zwischen den beiden Ortschaften gab es, hinter einer Reklametafel versteckt, einen Feldweg, der zu einem zerfallenen kleinen Bauernhaus führte, daneben ein riesiger ulivo saraceno, ein Olivenbaum, der bestimmt ein paar hundert Jahre alt war. Er sah aus wie ein künstlicher Baum, ein Theaterbaum, der Fantasie eines Gustave Doré entsprungen, eine passende Illustration zu Dantes Hölle. Die untersten Äste streiften, sich krümmend, den Boden, Äste, die es trotz aller Mühe nicht schafften, sich zum Himmel zu erheben, und die es sich, wenn sie ein Stück weitergekommen waren, anders überlegten und beschlossen, Richtung Baumstamm zurückzukehren und dabei eine Kurve wie einen Ellbogen oder sogar Knoten bildeten. Doch kurz darauf besannen sie sich wieder anders und machten kehrt, als wären sie erschrocken vor dem mächtigen, aber mit den Jahren durchlöcherten, ausgedörrten, zerfurchten Stamm. Und wenn sie kehrtmachten, folgten die Äste einer anderen Richtung als zuvor. In allem ähnelten sie Vipern, Pythons, Boas, Anakondas, die mit einem Mal eine Metamorphose zu Olivenästen vollzogen hatten. Sie schienen zu verzweifeln, unter dieser Verhexung zu leiden, in der sie für alle Zeit in einer unmöglichen tragischen Flucht erstarrt waren, canditi, kandiert, hätte Montale gesagt. Wenn die mittleren Äste etwa einen Meter Länge erreicht hatten, packte sie sofort der Zweifel, ob sie sich nach oben wenden oder den Boden anvisieren sollten, um sich wieder mit den Wurzeln zu vereinigen.
    Wenn Montalbano keine Lust auf Meeresluft hatte, ersetzte er den Spaziergang auf der östlichen Mole durch den Besuch bei dem Olivenbaum. Rittlings auf einem der unteren Äste sitzend, steckte er sich eine Zigarette an und dachte über Dinge nach, die zu klären waren.
    Er hatte entdeckt, dass das sich verwickelnde, verwirrende, sich windende, überlagernde Geäst, eben dieses Labyrinth, auf geheimnisvolle Weise fast spiegelbildlich wiedergab, was in seinem Kopf vorging, das Geflecht der Mutmaßungen, das Sichkreuzen der Überlegungen. Und wenn ihm irgendeine Vermutung im ersten Moment vielleicht zu voreilig, zu gewagt erschien, ließ ihn der Anblick eines Astes, der noch abenteuerlichere Wege zog als seine Gedanken, wieder zuversichtlich werden und weiterdenken. Im silbrig grünen Laub versteckt, konnte er stundenlang sitzen, ohne sich zu rühren; die Reglosigkeit wurde nur hin und wieder unterbrochen von den unvermeidlichen Bewegungen, wenn er sich eine Zigarette ansteckte, die er rauchte, ohne sie jemals aus dem Mund zu nehmen, oder wenn er den Stummel sorgfältig ausdrückte, indem er ihn am Absatz seines Schuhs hin- und herrieb. Er saß so still, dass die Ameisen ungestört an ihm hinaufkletterten, in seine Haare schlüpften, über seine Hände, seine Stirn krabbelten. Wenn er von dem Ast heruntergeklettert war, musste er seine Kleidung gründlich abklopfen, und dann fielen, mit den Ameisen, auch ein paar kleine Spinnen, ein paar Glückskäfer herab.
     
    Auf dem Ast sitzend, stellte er sich eine Frage, die grundlegend war für den Weg, der bei den Ermittlungen einzuschlagen war: Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der beiden alten Leute und dem Mord an dem jungen Mann?
    Als er den Blick und den Kopf hob, um den ersten Zug der Zigarette möglichst tief einzusaugen, fiel dem Commissario ein Arm des Olivenbaums auf, der einen unmöglichen Weg genommen hatte, Kanten, enge Kurven, Sprünge vor und zurück, an einer Stelle sah er sogar aus wie ein alter Heizkörper mit drei Elementen.
    »Nein, ich lass mich von dir nicht in die Irre führen«, flüsterte Montalbano ihm, die Aufforderung zurückweisend, zu. Noch waren keine Akrobatenstücke notwendig, im Augenblick genügten die Fakten, allein die Fakten. Alle Mieter des Hauses in der Via Cavour 44, einschließlich Pförtnerin, hatten übereinstimmend erklärt, dass sie das alte Ehepaar und den jungen Mann nie miteinander gesehen hatten. Nicht einmal bei einer ganz zufälligen Begegnung, wie es vorkommen kann, wenn man auf den Fahrstuhl wartet. Sie hatten verschiedene Tagesabläufe, einen ganz unterschiedlichen Lebensrhythmus. Wenn man recht überlegte - was für eine Beziehung konnte es überhaupt geben zwischen zwei griesgrämigen, ungeselligen, sogar bösen Alten, die mit keinem Menschen etwas zu tun haben wollten, und einem Zwanzigjährigen mit zu viel Geld in der Tasche, der jede zweite Nacht eine andere Frau

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