Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Gargano eine Beziehung bestand, die man als etwas.« Das Mädchen riss die wunderschönen blauen Augen auf. »Warum reden Sie jetzt so?«
»Entschuldigen Sie«, sagte der Commissario. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich wollte sagen.«
»Ich habe genau verstanden, was Sie sagen wollten. Und die Antwort ist: vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Das haben Sie auch gelesen?«
»Nein. Ich mag D'Annunzio nicht. Aber wenn ich, wie Sie das nennen, eine Vermutung anstellen müsste, würde ich eher ja als nein sagen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Die Geschichte zwischen den beiden fing meiner Meinung nach fast sofort an. Manchmal sonderten sie sich ab, flüsterten miteinander.«
»Aber das heißt doch nichts! Sie können genauso gut über Geschäftliches gesprochen haben!«
»So wie die sich dabei in die Augen gesehen haben? Und dann gab es die Ja-Tage und die Nein-Tage.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wie das für Verliebte eben typisch ist. Wenn das letzte Zusammensein gut war und sie sich dann wieder sehen, lächeln sie sich dauernd an und berühren sich flüchtig. Doch wenn es schiefgegangen ist, wenn es Krach gegeben hat, dann ist Eiszeit und sie vermeiden Berührungen und Blicke. Wenn Gargano nach Vigàta kam, hielt er sich mindestens eine Woche dort auf, es war also genug Zeit für Ja-Tage und für Nein-Tage. Das wäre mir kaum entgangen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich treffen konnten?«
»Nein. Gargano war diskret. Und bei Giacomo wird Diskretion ebenfalls groß geschrieben.«
»Sagen Sie, haben Sie nach Garganos Verschwinden von Giacomo noch etwas gehört? Hat er geschrieben, angerufen, sich irgendwie gemeldet?«
»Das müssen Sie nicht mich fragen, sondern Mariastella, sie ist als Einzige im Büro geblieben. Ich habe mich dort nicht mehr blicken lassen, nachdem mir klar geworden war, dass es ein wild gewordener Kunde auch auf mich abgesehen haben könnte. Giacomo hat es ganz klug angestellt und sich an dem Morgen, an dem Gargano nicht erschien, auch nicht blicken lassen. Anscheinend hat er es geahnt.«
»Was geahnt?«
»Dass Gargano sich das Geld unter den Nagel gerissen hat. Commissario, Giacomo war der Einzige von uns, der etwas von Garganos Geschäften verstand. Wahrscheinlich ist er tags zuvor zur Bank, und dort hat man ihm gesagt, dass der Kapitaltransfer von Bologna nach Vigàta nicht stattgefunden hat. Da hat er wohl gedacht, dass etwas nicht geklappt hat, und ist nicht erschienen. Zumindest dachte ich das.«
»Und das war ein Irrtum, denn Giacomo ist, einen Tag bevor Gargano kommen sollte, nach Deutschland gereist.«
»Ach ja?«, fragte das Mädchen aufrichtig verblüfft. »Wozu denn das?«
»In Garganos Auftrag. Ein Aufenthalt von mindestens einem Monat. Er sollte bestimmte Geschäfte abwickeln.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Von Giacomos Onkel, der den Hausbau überwacht.«
»Welchen Hausbau?«, fragte Michela verwirrt. »Wussten Sie nicht, dass Giacomo zwischen Vigàta und Montelusa ein Haus gebaut hat?«
Michela legte ihren Kopf in die Hände. »Was reden Sie da? Giacomo lebte von den zwei Millionen zweihunderttausend Lire Gehalt! Das weiß ich ganz bestimmt!«
»Aber vielleicht haben seine Eltern…«
»Seine Eltern sind aus Vizzini und ernähren sich vom Löwenzahn in ihrem Garten! Commissario, was Sie da erzählen, kann nicht stimmen. Gargano hat Giacomo zwar ab und zu losgeschickt, damit er bestimmte Fragen klärte, aber dann ging es immer um kleine Probleme in unseren Agenturen in der Provinz. Ich glaube nicht, dass er ihn wegen wichtiger Geschäfte nach Deutschland geschickt hätte. Ich habe zwar gesagt, dass Giacomo mehr davon verstand als wir, aber er war bestimmt nicht fit genug, um international zu agieren. Er ist weder alt genug.«
»Wie alt ist er?«, unterbrach Montalbano sie. »Fünfundzwanzig. Noch hat er die Erfahrung. Nein, ich bin überzeugt, dass er seinem Onkel mit dieser Geschichte gekommen ist, weil er eine Zeit lang verschwinden wollte. Wild gewordene Kunden hätte er nicht ertragen.«
»Und da taucht er für einen ganzen Monat ab?«
»Keine Ahnung, ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Michela. »Geben Sie mir eine Zigarette.« Montalbano gab ihr eine Zigarette und Feuer. Das Mädchen rauchte in kurzen Zügen, ohne den Mund zu öffnen, nervös. Montalbano hatte auch keine Lust zu reden, er überließ sein Hirn dem Leerlauf.
Als sie fertig geraucht hatte, sagte Michela mit ihrer Marlenen-Stimme (oder
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