Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
wusste, dass er etwas hinunterschluckte, das einem Massenmord, einer Vernichtung gleichkam. Um sich selbst zu bestrafen, wollte er weiter nichts essen. Als er die Trattoria verließ, meldete sich, was ab und zu vorkam, die sehr lästige Stimme seines Gewissens.
»Um dich selbst zu bestrafen, hast du gesagt? Du bist vielleicht scheinheilig, Montalbà! Befürchtest du nicht eher Verdauungsprobleme? Weißt du, wie viele Frikadellen du verdrückt hast? Achtzehn!«
Vorsichtshalber ging er an den Hafen, lief bis zum Leuchtturm und stärkte sich an der Meeresluft.
»Fazio, was meinst du, auf wie viele Arten man vom Kontinent nach Sizilien gelangen kann?«
»Dottore, das geht so: mit dem Auto, mit dem Zug, mit dem Schiff, mit dem Flugzeug. Oder zu Fuß, wenn man will.«
»Fazio, ich mag das nicht, wenn du einen auf witzig machst.«
»Das war kein Witz. Im letzten Krieg ist mein Vater zu Fuß von Bozen nach Palermo gelaufen.«
»Haben wir irgendwo das Kennzeichen von Garganos Auto?«
Fazio sah ihn überrascht an.
»Hat sich nicht Dottor Augello um die Geschichte gekümmert?«
»Jetzt kümmere ich mich darum. Hast du was dagegen?«
»Warum sollte ich? Dann schaue ich jetzt in Dottor Augellos Unterlagen nach. Halt, nein, ich rufe ihn an. Wenn der mitkriegt, dass ich in seinen Sachen gekramt habe, erschießt er mich womöglich. Haben Sie die Akten hier unterschrieben? Ja? Dann nehme ich sie mit und bring noch mehr.«
»Wenn du mir noch mehr Zeug zum Unterschreiben bringst, füttere ich dich mit jedem Blatt einzeln.« In der Tür blieb Fazio, die Arme mit Akten beladen, stehen und wandte sich um. »Wenn Sie erlauben, Dottore, Sie verlieren nur Ihre Zeit mit Gargano. Wollen Sie wissen, was ich denke?«
»Nein, aber wenn's sein muss, dann erzähl.«
»Heilige Maria, sind Sie heute unleidlich! Was ist, macht Ihnen das Mittagessen zu schaffen?«
Und er ging verärgert hinaus, ohne zu verraten, was er über Gargano dachte. Keine fünf Minuten später schlug die Tür gegen die Wand, und ein bisschen Putz bröckelte herunter. Catarella kam herein, auf den Armen gut einen Meter Unterlagen, sein Gesicht war nicht zu sehen.
»Entschuldigen Sie, Dottori, ich musste die Tür mit dem Fuß aufdrücken, weil meine Arme belegt sind.«
»Stehen bleiben!«
Catarella bremste.
»Was ist das?«
»Sachen zum Unterschreiben, Dottori. Fazio hat sie mir gerade gegeben.«
»Ich zähl bis drei. Wenn du dann nicht verschwunden bist, erschieß ich dich.«
Catarella stöhnte erschrocken und trat folgsam den Rückzug an. Ein kleiner Racheakt von Fazio, der beleidigt war.
Gut eine halbe Stunde verging, ohne dass Fazio aufgetaucht wäre. War er nach der Rache zum Boykott übergegangen? »Fazio!«
Fazio kam mit sehr ernstem Gesicht an. »Ja bitte, Dottore?«
»Ist es noch nicht vorbei? Bist du so sauer?«
»Weshalb sollte ich sauer sein?«
»Weil ich nicht hören wollte, was du denkst. Komm, sag schon.«
»Jetzt mag ich nicht mehr.«
Kriminalkommissariat Vigàta oder Montessori-Kindergarten? Wenn er ihm eine rote Muschel oder einen Knopf mit drei Löchern gab, würde Fazio dann reden? Am besten machte man einfach weiter. »Also, das Kennzeichen?«
»Ich erreiche Dottor Augello nicht, auch am Handy meldet er sich nicht.«
»Schau in seinen Unterlagen nach.«
»Ermächtigen Sie mich dazu?«
»Ich ermächtige dich dazu. Geh schon.«
»Nicht nötig. Ich hab's in der Jackentasche.«
Er holte einen Zettel hervor und reichte ihn Montalbano, der ihn nicht nahm.
»Wo hast du es her?«
»Ich hab in die Unterlagen von Dottor Augello geschaut.«
Montalbano hätte ihm am liebsten rechts und links eine gescheuert. Wenn Fazio es darauf anlegte, konnte er einen Waschlappen in Rage bringen.
»Jetzt schau noch mal in Augellos Unterlagen, ich will genau wissen, an welchem Tag Gargano erwartet wurde.«
»Gargano hätte am 1. September hier sein müssen«, sagte Fazio prompt. »Die Rendite war auszuzahlen, um neun Uhr morgens warteten schon an die zwanzig Leute auf ihn.«
Montalbano begriff, dass Fazio in der halben Stunde, in der er sich nicht hatte blicken lassen, in die Lektüre von Augellos Akten vertieft gewesen war. Er war ein richtiger Polizist, jetzt wusste er alles über den Fall. »Aber warum standen sie an? Zahlte er bar?«
» Nonsi, Dottore. Mit Schecks, mit Gutschriften, mit Überweisungen. Die Leute, die anstanden, waren alt, Rentner, es war ihnen ein Vergnügen, den Scheck aus Garganos Händen
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