Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
erinnern, dass Mimì schon frei hat. Wie merkwürdig.«
»Ich finde das nicht merkwürdig«, sagte Livia mit einer Stimme, in der sich hörbar Packeis bildete.
»Nein? Wieso nicht?«
»Weil du die Dinge nicht vergisst, sondern verdrängst. Das ist etwas anderes.«
Er wusste, dass er dieses Gespräch nicht lange durchhalten würde. Außer über Redensarten und Gemeinplätze ärgerte er sich über diese Anwandlungen handgestrickter Psychoanalyse, denen Livia sich oft und gern hingab. Einer Psychoanalyse wie in einem amerikanischen Film, wo einer zum Beispiel zweiundfünfzig Leute ermordet und man das Motiv dann daran festmacht, dass der Vater des Massenmörders ihm als Kind eines Tages die Marmelade verweigert hat.
»Was glaubt ihr denn, du und deine Freunde Freud und Jung, was ich verdränge?«
Er hörte am anderen Ende der Leitung ein höhnisches kleines Lachen.
»Die Idee des Heiratens an sich«, erklärte Livia. Eisbären zogen ihre Kreise auf dem Packeis der Stimme. Was tun? Böse reagieren und sich mit ihr anlegen? Oder Unterwürfigkeit heucheln, Nachgiebigkeit, gute Stimmung? Aus taktischen Erwägungen entschied er sich für letzteren Weg.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte er mit reumütiger Stimme.
Es stellte sich als der richtige, der entwaffnende Schachzug heraus.
»Lassen wir dieses Thema«, sagte Livia großherzig. »O nein! Jetzt reden wir darüber«, erwiderte Montalbano, der nun wusste, dass er sich auf sicherem Terrain bewegte.
»Jetzt? Am Telefon? Lass uns in Ruhe darüber reden, wenn ich in Marinella bin.«
»Einverstanden. Denk dran, wir müssen noch ein Hochzeitsgeschenk aussuchen.«
»Also hör mal!«, rief Livia lachend.
»Willst du ihm nichts schenken?«, fragte Montalbano erstaunt.
»Das Geschenk habe ich schon gekauft und geschickt! Denkst du, ich würde das bis zum letzten Tag hinausschieben? Ich habe eine Kleinigkeit gekauft, die Mimì bestimmt gefallen wird. Ich kenne seinen Geschmack.« Da war er wieder, der zuverlässige Stachel der Eifersucht, vollkommen irrational, aber allzeit einsatzbereit. »Ich weiß, dass du Mimìs Geschmack sehr gut kennst.« Er konnte nichts machen, der Hieb hatte sich von selbst ausgeführt. Eine kleine Pause vonseiten Livias, dann die Parade. »Schwachkopf.« Noch ein Ausfall:
»Du hast natürlich an Mimìs und nicht an Beatrices Geschmack gedacht.«
»Mit Beba habe ich mich am Telefon beraten.« Montalbano wusste nicht, auf welches Terrain er das Duell noch verlagern sollte. Denn in letzter Zeit boten ihre Telefongespräche vor allem Gelegenheit und Vorwand für Auseinandersetzungen und Gezänk. Und dabei berührten diese Reibereien nicht die unveränderte Intensität ihrer Beziehung. Woher kam es dann, dass sie am Telefon durchschnittlich bei jedem vierten Satz zankten? Vielleicht, sagte sich der Commissario, liegt es an der Entfernung, die mit jedem Tag schwerer zu ertragen ist, denn wenn man älter wird - tja, hin und wieder muss man der Wahrheit schon ins Auge sehen und auch die entsprechenden Wörter benutzen -, spürt man immer stärker das Bedürfnis, den Menschen, den man am meisten liebt, bei sich zu haben. Wahrend er so vor sich hin dachte (und der Gedanke gefiel ihm, weil er beruhigend und banal war wie die Sprüche in den Baci Perugina), holte er den Pullover unter dem Tisch hervor, stopfte ihn in eine Plastiktüte und öffnete den Schrank; beim Gestank der Mottenkugeln blieb ihm die Luft weg, er trat zurück, stieß dabei mit dem Fuß die Tür zu und warf die Tüte auf den Schrank. Vorläufig konnte er dort bleiben, er würde ihn vergraben, bevor Livia kam.
Er öffnete den Kühlschrank und fand nichts Besonderes, ein Glas Oliven, eines mit Anchovis und ein bisschen tumazzo. Doch seine Zuversicht kehrte wieder, als er den Backofen aufmachte: Concetta hatte patati cunsati hergerichtet, ein schlichtes Kartoffelgericht, das nichts sein konnte und alles, je nachdem, welche Hand die Zutaten dosierte und Zwiebeln mit Kapern, Oliven mit Essig und Zucker, Salz mit Pfeffer in Wechselwirkung brachte. Beim ersten Bissen wusste er, dass Concetta eine meisterhafte junge Köchin war, würdige Schülerin ihrer Tante Adelina. Als er die üppige Portion patati cunsati verspeist hatte, aß er Brot und tumazzo, nicht weil er noch Hunger hatte, sondern aus reiner Gier. Er erinnerte sich, dass er schon als Kind ein Leckermaul und gefräßig gewesen war, sodass sein Vater ihn liccu cannarutu nannte, und das heißt
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