Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Livia an? Er schlug mit der Hand heftig auf die Akten, die sich über den Boden verteilten, stand auf, ging hinaus, fuhr zum Hafen und machte einen langen Beruhigungsspaziergang.
Er wusste nicht, warum, aber auf dem Weg zum Kommissariat überlegte er es sich anders und fuhr bei der »König Midas«-Agentur vorbei. Sie war geöffnet. Er drückte die Glastür auf und trat ein.
Sofort schnürte ihm ein Gefühl trister Verlassenheit die Kehle zu. In der Agentur brannte nur eine kleine Lampe, die ein Licht wie bei einer Totenwache verbreitete. Maria stella Cosentino saß regungslos hinter dem Schalter und starrte vor sich hin.
»Guten Tag«, sagte Montalbano. »Ich kam gerade hier vorbei und da. Gibt es Neuigkeiten?« Mariastella breitete die Arme aus und sagte nichts. »Hat Giacomo Pellegrino sich aus Deutschland gemeldet?« Mariastella riss die Augen auf. »Aus Deutschland?!«
»Ja, er ist in Garganos Auftrag nach Deutschland gereist, wussten Sie das nicht?«
Mariastella schien durcheinander und erstaunt zu sein. »Das wusste ich nicht. Ich habe mich in der Tat gefragt, wo er wohl steckt. Ich dachte, er sei nicht erschienen, weil er vermeiden wollte.«
»Nein«, sagte Montalbano. »Sein Onkel, der so heißt wie er, sagte mir, Gargano habe Giacomo telefonisch beauftragt, am Nachmittag des 31. August nach Deutschland zu fliegen.«
»Einen Tag, bevor der Ragioniere kommen sollte?«
»Genau.«
Mariastella schwieg. »Sie sind nicht überzeugt?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, nein.«
»Sprechen Sie.«
»Nun, Giacomo war hier bei uns derjenige, der mit dem Ragioniere zusammenarbeitete, wenn es um Zahlungen und die Berechnung der Rendite ging. Dass der Ragioniere ihn mit einem Auftrag so weit fort geschickt haben soll, wenn er ihn am nötigsten gebraucht hätte, wundert mich. Außerdem hat Giacomo…«
Sie verstummte, sichtlich hätte sie lieber nicht weitergesprochen.
»Haben Sie Vertrauen, sagen Sie alles, was Sie denken. In Ragioniere Garganos ureigenstem Interesse.« Bei diesem letzten Satz kam er sich mieser vor als ein Hütchenspieler, aber Signorina Cosentino biss an. »Ich glaube nicht, dass Giacomo viel von großen Finanzgeschäften verstand. Aber der Ragioniere schon, er war ein Magier.«
Ihre Augen glitzerten bei dem Gedanken, wie toll ihr Liebster war. »Sagen Sie«, fragte der Commissario, »wissen Sie die Adresse von Giacomo Pellegrino?«
»Natürlich«, sagte Mariastella. Sie nannte sie ihm.
»Rufen Sie mich an, wenn es Neuigkeiten gibt«, sagte Montalbano.
Er reichte ihr die Hand, Mariastella beschränkte sich darauf, ein »Auf Wiedersehen« jenseits der Hörschwelle zu hauchen. Vielleicht hatte sie keine Kraft mehr, möglicherweise überließ sie sich dem Hungertod wie manche Hunde auf dem Grab ihres Herrchens. Montalbano bekam keine Luft mehr und rannte aus der Agentur.
Die Tür von Giacomo Pellegrinos Wohnung stand sperrangelweit offen, Zementsäcke, Eimer mit Wandfarben und weiteres Baumaterial lagerten auf dem Treppenabsatz. Der Commissario trat ein. »Hallo?«
»Was wollen Sie?«, fragte oben von einer Stehleiter ein Maurer in Maurermontur einschließlich Papierschiffchen. »Tja«, meinte Montalbano etwas ratlos. »Wohnt hier nicht jemand namens Pellegrino?«
»Keine Ahnung, wer hier wohnt oder nicht wohnt«, antwortete der Maurer.
Er hob einen Arm und klopfte mit den Knöcheln an die Decke, als wäre sie eine Tür. »Signora Catarina!«, schrie er.
Von oben vernahm man gedämpft eine weibliche Stimme. »Was ist?«
»Kommen Sie runter, da will einer zu Ihnen!«
»Ich komme gleich.«
Montalbano trat vor die Tür. Er hörte im Stockwerk darüber, wie eine Tür auf- und wieder zuging, und dann entstand ein merkwürdiges Geräusch, es klang wie ein Blasebalg in Aktion. Montalbano konnte es sich erklären, als oben an der Treppe Signora Catarina erschien. Sie wog bestimmt hundertvierzig Kilo, bei jedem Schritt, den sie tat, schnaubte sie. Als sie den Commissario sah, blieb sie stehen.
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Kriminalkommissar. Mein Name ist Montalbano.«
»Und was wollen Sie von mir?«
»Mit Ihnen sprechen, Signora.«
»Dauert es lange?«
Der Commissario machte eine ausweichende Handbewegung. Signora Catarina sah ihn nachdenklich an. »Kommen Sie besser rauf«, entschied sie schließlich und machte sich an das mühselige Manöver, sich um die eigene Achse zu drehen.
Der Commissario blieb noch stehen und wartete, bevor er sich in Bewegung setzte, das
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