Commissario Montalbano 06 - Der Kavalier der späten Stunde
Kandidat fürs Irrenhaus, der Ungeheuer und fliegende Untertassen sieht?
»Ja. Und Sie sind Commissario Montalbano. Nehmen Sie Platz.«
Er wies auf einen bequemen Sessel. »Bitte, was kann ich für Sie tun?«
Das war der Haken. Wie sollte er das Gespräch beginnen, ohne Signor Tommasino, der ihm völlig normal vorkam, zu kränken?
»Was lesen Sie denn Schönes?«
Die Frage, die ihm da entschlüpft war, war dermaßen schwachsinnig und absurd, dass er sich schämte. Doch Tommasino lächelte.
»Ich lese gerade das so genannte Rogerbuch von Idrisi, einem arabischen Geografen. Aber Sie sind nicht gekommen, um mich zu fragen, was ich lese. Sie sind gekommen, um zu erfahren, was ich vor etwas mehr als einem Monat eines Nachts gesehen habe. Vielleicht hat man im Kommissariat seine Meinung geändert.«
»Ja, danke«, sagte Montalbano, erleichtert, dass der andere die Initiative ergriff.
Tommasino war nicht nur normal, er war auch ein vornehmer, gebildeter und intelligenter Mann. »Ich muss eine Frage vorausschicken. Was hat man Ihnen über mich erzählt?«
Montalbano zögerte verlegen. Dann entschied er, dass es immer am besten ist, bei der Wahrheit zu bleiben. »Man hat mir gesagt, dass Sie manchmal merkwürdige Dinge sehen, Dinge, die nicht existieren.«
»Sie sind sehr freundlich, Commissario. Kurz gesagt, es heißt von mir, ich sei verrückt. Ein ruhiger Verrückter, ein Bürger, der seine Steuern zahlt, das Gesetz achtet, weder öffentliches Ärgernis erregt noch gewalttätig ist, niemanden bedroht, seine Frau nicht misshandelt, in die Kirche geht, Kinder und Enkel großgezogen hat, aber eben spinnt. Sie haben ganz Recht: Ich sehe hin und wieder Dinge, die nicht existieren.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Montalbano. »Was machen Sie?«
»Beruflich, meinen Sie? Ich habe am Gymnasium Montelusa Erdkunde unterrichtet. Ich bin schon seit Jahren pensioniert. Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?«
»Natürlich.«
»Ich habe einen Enkel, Michele, der jetzt vierzehn Jahre alt ist. Vor etwa zehn Jahren kam mein Sohn mit Frau und Kind einmal zu Besuch. Das tut er auch heute noch, Gott sei Dank. Michele und ich spielten draußen. Plötzlich fing Michele an zu brüllen, er rief, vor dem Haus seien lauter schreckliche wütende Drachen: Ich spielte mit und schrie ganz erschrocken. Da ist der Kleine vor meiner Angst erschrocken, und er wollte mich beruhigen. Großvater, hat er gesagt, schau, die Drachen gibt's nicht in echt, du brauchst keine Angst haben. Ich hab sie nur zum Spiel erfunden. Commissario, glauben Sie mir, mir ergeht es seit einigen Jahren wie meinem Enkel Michele. Ein Teil meines Hirns muss sich, aus unerfindlichen Gründen und auf irgendeine Weise, ins Kindesalter zurückbegeben haben. Doch anders als der Kleine halte ich, was ich sehe, für real, und ich halte es eine gewisse Zeit lang für real. Das vergeht dann wieder, und mir wird bewusst, dass ich etwas nicht Existierendes gesehen habe. Ist das bis hierher zu verstehen?«
»Vollkommen«, sagte der Commissario. »Darf ich Sie jetzt fragen, was ich gesehen haben soll?«
»Na ja, ich glaube, ein Seeungeheuer mit drei Köpfen und eine fliegende Untertasse.«
»Sonst nichts? Hat man Ihnen nicht gesagt, dass ich auch gesehen habe, wie sich ein Schwarm Fische mit Blechflügeln auf einem Baum niederließ? Oder dass ein Zwerg von der Venus plötzlich bei mir in der Küche stand und um eine Zigarette bat? Sollen wir hier Schluss machen, damit wir nicht durcheinander kommen?«
»Wie Sie wollen.«
»Dann zähle ich auf, was ich Ihnen gesagt habe und was Sie bereits wussten. Ein dreiköpfiges Seeungeheuer, eine fliegende Untertasse, ein Schwarm Fische mit Blechflügeln, ein Venuszwerg. Sie stimmen mir zu, dass alle diese Dinge nicht existieren?«
»Natürlic h.«
»Wenn ich also zu Ihnen komme und sage: Ich habe letzte Nacht ein Auto gesehen, das so und so aussieht, warum glauben Sie mir dann nicht? Sind Autos etwa ein Produkt der Fantasie, existieren sie nicht? Ich rede von etwas ganz Alltäglichem, von einem echten Auto mit vier Rädern, Kennzeichen, zugelassen, ich sage nicht, dass ich auf einen Weltraum-Tretroller gestoßen wäre, mit dem man zum Mars fahren kann!«
»Zeigen Sie mir, wo Sie Garganos Auto gesehen haben«, sagte Montalbano.
Er hatte einen wertvollen Zeugen gefunden, dessen war er sicher.
Elf
In der kurzen Zeit, die er im Haus verbracht hatte, war das Wetter umgeschlagen. Ein jähzorniger, kalter Wind mit Böen
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