Commissario Montalbano 07 - Das kalte Lächeln des Meeres
Berechnung nach in anderthalb Stunden in Montechiaro am Krankenhaus sein.
Während er in einem Affentempo über die Straßen jagte und immer wieder gefährlich nahe dran war, gegen ein anderes Auto oder einen Baum zu knallen, denn ein guter Fahrer war er noch nie gewesen, kam er sich irgendwann furchtbar lächerlich vor. Was brachte ihn eigentlich zu dieser Unternehmung? In Sizilien gab es bestimmt Hunderte Immigrantenkinder, was rechtfertigte also seinen Verdacht, dass der überfahrene Junge ausgerechnet der war, den er vor ein paar Tagen am Hafenkai bei der Hand genommen hatte? Doch eines wusste er sicher: Um sein Gewissen zu beruhigen, musste er das Kind unbedingt sehen, weil ihn dieser quälende Verdacht sonst nicht mehr losließ. Und umso besser, wenn es doch nicht der Junge war.
Dann war die, wie Riguccio sagte, Familienzusammenführung gelungen.
Im Krankenhaus Montechiaro sprach er mit Dottor Quarantino, einem liebenswürdigen, höflichen jungen Mann.
»Commissario, der Junge war bereits tot, als er hier ankam. Ich glaube, dass er auf der Stelle gestorben ist. Der Aufprall muss extrem heftig gewesen sein. Das Rückgrat war gebrochen.«
Montalbano hatte ein Gefühl, als erfasste ihn ein kalter Windstoß.
»Sie meinen, er wurde von hinten überfahren?«
»Ganz sicher. Vielleicht stand der Junge am Straßenrand, und der Wagen, der mit hoher Geschwindigkeit von hinten kam, ist wohl ins Schleudern geraten«, vermutete Dottor Quarantino.
»Wissen Sie, wer ihn hergebracht hat?«
»Ja, einer unserer Ambulanzwagen, die Verkehrspolizei war sofort am Unfallort und hat angerufen.«
»Die Verkehrspolizei Montechiaro?«
»Ja.«
Und endlich rang er sich zu der Frage durch, die zu stellen er bislang nicht den Mut gefunden hatte.
»Ist der Junge noch hier?«
»Ja, im Kühlraum.«
»Könnte . könnte ich ihn sehen?«
»Natürlich. Kommen Sie mit.«
Sie gingen einen Flur entlang, fuhren mit dem Aufzug in den Keller, bogen wieder in einen Flur ein, der noch trostloser war als der erste, und schließlich blieb der Doktor vor einer Tür stehen.
»Hier ist es.«
Ein kleines, eiskaltes Zimmer in fahlem Licht. Ein Tischchen, zwei Stühle, ein Metallregal. Ebenfalls aus Metall war eine Wand, die in Wirklichkeit aus einer Reihe von Kühlzellen-Schubladen bestand. Quarantino zog eine auf. Der kleine Körper war mit einem Laken zugedeckt. Der Doktor hob es behutsam hoch, und Montalbano sah als Erstes die großen Augen, dieselben Augen, mit denen ihn das Kind am Kai angefleht hatte, es laufen, es fliehen zu lassen. Es gab keinen Zweifel.
»Danke«, flüsterte er kaum hörbar.
Er merkte an Quarantinos Blick, dass sich in seinem Gesicht etwas verändert haben musste.
»Kannten Sie ihn?«
»Ja.«
Quarantino schob die Schublade zu. »Können wir wieder gehen?«
»Ja.«
Aber Montalbano rührte sich nicht. Seine Beine verweigerten den Dienst, sie waren wie zwei Holzklötze. Trotz der Kälte in dem kleinen Raum fühlte sich sein Hemd schweißnass an. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, bis ihm schwindlig wurde, und setzte sich dann endlich in Bewegung.
Bei der Verkehrspolizei erklärte man ihm, wo der Unfall passiert war: vier Kilometer von Montechiaro entfernt, auf dem illegal ausgebauten und nicht asphaltierten Verbindungsweg zwischen Spigonella, einem illegal errichteten Dorf am Meer, und Tricase, ebenfalls am Meer und ohne Baugenehmigung hingestellt. Das Sträßchen verlief nicht gerade, sondern machte einen weiten Umweg landeinwärts und führte zu den ebenfalls schwarzgebauten Häusern von Leuten, die lieber in den Hügeln als am Meer wohnten. Ein zuvorkommender Inspektor fertigte sogar eine exakte Karte über den Verlauf des Weges an, damit der Signor Commissario auch die richtige Stelle fand.
Der Weg war nicht nur nicht asphaltiert, ihm war auch anzusehen, dass es sich um einen alten Karrenweg handelte, dessen unzählige Löcher schlecht und nur teilweise aufgefüllt waren. Wie konnte da ein Auto mit hoher Geschwindigkeit fahren, ohne eine Panne zu riskieren? War es vielleicht von einem anderen Auto verfolgt worden? Hinter einer Kurve wusste der Commissario, dass er angekommen war. Am Fuß eines Kieshaufens am rechten Wegrand lag ein kleiner Strauß Wiesenblumen. Montalbano hielt an und stieg aus, um sich die Stelle genau anzusehen. Der Haufen sah deformiert aus, als ob er gerammt worden wäre. Auf dem Kies waren große dunkle Flecken von getrocknetem Blut. Häuser waren von der Stelle aus nicht zu sehen,
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