Commissario Montalbano 11 - Die Flügel der Sphinx
keiner hat abgehoben. Wahrscheinlich war niemand zu Hause.«
»Wo wohnt sie?«
»Eine Witwe, Signora Bellini, hat ihr ein Zimmer vermietet. Via Attilio Règolo 30.«
»Wie ist sie an die Stelle bei Ihnen gekommen?«
»Don Antonio, der Pfarrer der Kirche, die sich in dieser Straße hier befindet, hat sie uns empfohlen. Aber darf ich erfahren, warum Sie mir all diese Fragen über Katia stellen? Hat sie etwas Schlimmes angestellt?«
»Nicht dass wir wüssten«, sagte der Commissario. »Wir suchen sie nur, weil sie uns sehr wichtige Informationen für eine Ermittlung liefern könnte, die wir durchführen. Es geht dabei um den Mord an einer jungen Russin. Haben Sie davon gehört?«
»Nein. Wenn ich im Fernsehen Berichte sehe, die mit Mord zu tun haben, schalte ich sofort um.«
»Da tun Sie gut dran. Wie ist Katia so von ihrem Wesen her?«
»Sie ist eine ausgeglichene, ganz normale junge Frau, ich will nicht sagen, fröhlich, aber eben auch nicht traurig. Hin und wieder ist sie wie abwesend … ganz in sich gekehrt, ja, so als würde sie einem nicht gerade angenehmen Gedanken nachhängen.«
»Signora Palmisano, ich bitte Sie, genau nachzudenken, bevor Sie jetzt antworten. Haben Sie in den letzten Tagen eine Veränderung an Katia beobachten können? Ich meine, in der Zeit zwischen Montagabend und gestern Abend.«
»Ja«, sagte Signora Palmisano unverzüglich, ohne dass sie nachdenken musste. »Was haben Sie beobachtet?«
»Dass sie sehr blass war, als sie Dienstagmorgen herkam, und ihre Hände zitterten ein bisschen. Ich fragte sie, was sie habe, und sie antwortete mir, dass sie einen Anruf aus ihrer Heimatstadt bekommen habe … Schelkowo?«
»Ja.«
»Und dass sie eine schlimme Nachricht erhalten habe.«
»Hat sie Ihnen gesagt, was für eine?«
»Nein. Und ich habe auch nicht weiter nachgehakt, weil ich gemerkt habe, dass sie nicht darüber sprechen wollte.«
»Haben Sie sonst noch etwas beobachtet?«
»Aber ja! Gestern Morgen, als sie von der Post zurückkehrte - mein Mann hatte sie dorthin geschickt, sie sollte ein paar Einschreiben aufgeben -, kam sie mir völlig verstört vor. Ich fragte sie nach dem Grund, und sie sagte mir, es gehe ihr nicht gut, sie habe eine Art Ohnmachtsanfall gehabt, der bestimmt in Zusammenhang mit der schlimmen Nachricht stehe, von der sie sich nicht erholen könne. Deshalb war ich heute Morgen auch nicht allzu sehr verwundert, als sie nicht kam. Aber ich hatte mir vorgenommen, sie heute Nachmittag zu besuchen, wenn ich sie telefonisch nicht erreichen würde.« Zweifellos hatte Katia Graceffa entgegen seiner Annahme gesehen und erkannt. Und sie hatte befürchtet, dass Graceffa sich bei ihr melden und sie damit in Schwierigkeiten bringen könnte.
Signora Palmisano, die eine echte Dame war, stellte keine weiteren Fragen. Der Commissario hingegen fragte sie beim Aufstehen:
»Zeigen Sie mir die anderen Bilder?«
»Aber gern.«
Im privaten Arbeitszimmer des Notars gab es auch nicht ein Buch, das mit Juristerei zu tun hatte. Die Regale waren voll mit erstklassigen Romanen.
Tosis Landschaftsbild war wunderbar, doch vor der Hafenansicht von Carrà kamen ihm beinahe die Tränen. Als sie das Haus der Palmisanos verließen, merkte Montalbano, dass die schlecht ausgedrückte Kippe ihm ein Loch in die Jackentasche gebrannt hatte. Doch weil er noch ganz von der Schönheit des Carrà-Bildes ergriffen war, war ihm nicht nach Fluchen zumute.
Was mochte einen Bürgermeister dazu bewegen, noch im Jahr 2006 eine Straße nach Attilius Regulus zu benennen? Mysterien der Ortsnamenkunde. Die Nummer 30 entsprach einem heruntergekommenen Wohnhaus mit sechs Stockwerken ohne Aufzug, und natürlich wohnte die Witwe Bellini im sechsten. Sie stiegen die Treppen langsam hoch, waren aber trotzdem außer Atem, als sie vor ihrer Tür angelangten. »Wer ist da?«
Die Stimme einer alten Frau. »Signora Bellini?«
»Ja. Was wollt ihr?«
Montalbano hatte eine spontane Eingebung: Wenn er ihr sagte, er sei ein Commissario, dann machte sie ihm womöglich gar nicht erst auf, nicht mal wenn er mit Kanonen schösse. Stattdessen ließen alte Menschen ständig und ohne irgendwelche Vorbehalte Betrüger in die Wohnung.
»Sind Sie Rentnerin, Signora?«
»Ja, ein Elend ist das.«
»Wir sind gekommen, um Ihnen einen interessanten Vorschlag zu machen.«
Fazio sah ihn mit Mameluckenblick an.
Die Tür öffnete sich gerade so weit, wie die Kette es zuließ.
Signora Bellini musterte sie lange, während Montalbano und
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