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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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der aufgehenden Sonne und dem aufkommenden Wind begannen, kleine weiße Hütchen zu entwickeln. »Sie werden sechs Knoten machen können«, sagte er, und meinte damit die spanischen Schiffe, die sie jagen würden, »und die Schöne dort drüben wird es auf acht bringen«, wobei er mit dem Kopf auf die Météore deutete, die in wenigen Meilen Entfernung sichtbar wurde. Jack und alle anderen wussten ganz genau, dass die Galiot unter den gegebenen Umständen – mit einem erst vor kurzem saubergekratzten und gewachsten Rumpf und dem kombinierten Einsatz von Segeln und Riemen – ebenfalls acht Knoten würde fahren können.
    Sie wären mit anderen Worten vielleicht imstande gewesen, vor der Jacht zu fliehen und noch an diesem Tag in die Freiheit zu entkommen – aber dazu hätten sie als Erstes gegen die Korsaren an Bord kämpfen müssen. Und am Ende des Tages wären sie zum Schutz vor der Rache der Spanier auf andere Korsaren angewiesen gewesen. Deshalb hielten sie sich an ihren Plan.
    Die ersten paar Meilen, von Sanlúcar de Barrameda nach Cadiz, hätten eine normale Morgentour sein können, nicht anders als ihre Trainingsfahrten bei Algier. Doch der Kapitän der Météore – die jetzt unter französischer Flagge fuhr – ließ alle verfügbaren Segel hissen und nahm, eine oder zwei Meilen westwärts von ihnen, die Verfolgung
auf. Vielleicht wollte er sie nur beobachten, vielleicht wartete er aber auch auf eine Gelegenheit, ihr Schiff zu entern, sich ihrer gesamten Beute zu bemächtigen und sie zurück in die Sklaverei oder direkt auf den Meeresgrund zu schicken. Also nahmen sie so viel Fahrt auf, wie sie konnten, waren schon halb verrückt vor Angst und ruderten, was das Zeug hielt, als Cadiz in Sicht kam. Zwei Fregatten segelten von dort los und forderten sie mit zwei Kanonenschüssen vor den Bug heraus – offensichtlich waren Boten in der Nacht von Bonanza hergaloppiert.
    Danach löste der Tag sich in eine lange, unerträgliche Panik auf, ein langsames, langgezogenes Sterben. Jack ruderte und wurde gepeitscht, dann wieder peitschte er andere Männer, die ruderten. Er stand über Männern, die er mochte, und sah nur Vieh und peitschte ihnen die Haut vom Rücken, damit sie nur ein Quäntchen schneller ruderten, und später machten sie dasselbe mit ihm. Auch der Raïs ruderte und wurde von seinen eigenen Sklaven mit der Peitsche malträtiert. Die Galiot wurde zu einer Schale mit Blut, Haut und Haaren, einem einzigen lebendigen Leib, der von einem Anatom erbarmungslos aufgeschnitten worden war: die Bänke waren die Rippen, die Riemen Finger, die Männer Knorpel, die Trommel ein pochendes Herz, die Peitschen rohe, durchtrennte Nerven, die durch die Eingeweide des Schiffsrumpfs sausten und wirbelten und schnalzten. Dies war die erste Stunde ihres Tages und zugleich die letzte; das Ganze wurde rasch so schrecklich, dass es alle Vorstellungskraft überstieg, und genau so blieb es, in alle Ewigkeit, obwohl es sich nur um einen Tag handelte – so wie ein kurzer Albtraum scheinbar ein Jahrhundert umspannen kann. Mit anderen Worten, es entrückte der Zeit, und so gab es nichts darüber zu erzählen, denn es war keine Geschichte.
    Erst als die Sonne unterging, wurden sie allmählich wieder zu Menschen, hatten jedoch keine Ahnung, wo sie sich befanden. Auf der Galiot waren sie nicht mehr so zahlreich wie bei Sonnenaufgang, als sie zu den Klängen des Horns ihre trockenen Riemen in die weißen Schaumkronen der Wellen getaucht hatten. Warum das so war, wusste niemand genau. Jack konnte sich vage daran erinnern, wie blutige Körper von vielen Händen über die Dollborde geschoben worden waren und wie man versucht hatte, auch ihn über Bord zu werfen, jedoch davon abgelassen hatte, als er begann, wild um sich zu schlagen. Jack ging davon aus, dass Mr. Foot den Tag wohl nicht überlebt hatte, bis er später rasselndes Atmen aus einer dunklen Ecke des Achterdecks
vernahm und ihn zusammengekauert unter einem Stück Segeltuch fand. Die übrigen Mitglieder der Verschwörertruppe hatten alle überlebt. Oder besser gesagt, sie waren alle noch da. An einem Tag wie diesem war der Sinn des Wortes überleben nicht ganz klar. Bestimmt würden sie nie wieder dieselben sein wie vorher. Jacks Vergleich mit gefangenen Tieren, die sich selbst die Beine abnagen, war als Scherz gedacht gewesen, um Dappas Schuldgefühle ein wenig zu lindern, aber heute hatte er sich bewahrheitet; auch wenn Moseh, Jeronimo und die anderen nach wie vor atmeten und

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