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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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immer noch an Bord waren, waren wichtige Teile von ihnen abgekaut und zurückgelassen worden. In dieser Nacht kam es Jack nicht in den Sinn, dass das, zumindest für manche von ihnen, vielleicht sogar eine Verbesserung bedeutete.
    Jetzt fielen Regentropfen aus dem Dunkel, und sie lagen bäuchlings auf den Bänken und ließen das Wasser ihre Wunden reinigen. Die Galiot buckelte in gewaltigen pyramidenförmigen Wellen, die aus verschiedenen Richtungen auf sie zurollten. Manche fürchteten, sie würden an der spanischen Küste auf Grund laufen. Doch van Hoek sagte – als er wieder sprechen konnte, nachdem er seine Gebete um Vergebung und Erlösung beendet hatte -, er sei sicher, backbords Tarifa erspäht zu haben, wie es im spätnachmittäglichen Sonnenlicht geglänzt habe. Das bedeutete, dass das Wetter sie in das offene Mittelmeer hinaustrieb, dass die Korsaren-Länder auf ihrer Steuerbordseite lagen und dass sie selbst nun Spaniens ruhmreicher Vergangenheit angehörten.

Vor Malta
    ENDE AUGUST 1690
    »Schon vor der Zeit des Propheten hat mein Clan an den grünen Ausläufern des Nuba-Gebirges in Kordofan, hoch über dem Weißen Nil, Kamele gezüchtet«, erzählte Nyazi, während die Galiot träge durch die Wasserstraße zwischen Malta und Sizilien driftete. »Wenn sie ausgewachsen sind, treiben wir sie in großen Karawanen hinunter nach Omdurman, wo der Weiße und der Blaue Nil zusammenfließen, und
von dort folgen wir Pfaden, die nur wir kennen, mal längs des Nils und mal in weitem Bogen durch die Sahara, bis wir zum Khan el-Khalili in Kairo gelangen. Das ist der größte Handelsplatz für Kamele auf der ganzen Welt, wie im Übrigen auch für vieles andere. Manchmal sind wir auch schon dem Blauen Nil flussaufwärts gefolgt und über die Berge von Gonder bis hinüber nach Addis Abeba gezogen und noch darüber hinaus, sogar bis zu Seehäfen, in denen Elfenbeinschiffe nach Mocha lossegeln.
    Im Gegensatz zu meinem Kameraden Jeronimo gehöre ich nicht zu denen, die blumenreiche Geschichten erzählen; ich werde also nur von einer dieser Reisen berichten, auf der viele Männer in meiner Karawane krank wurden und starben. Nun sind wir alle große Kämpfer. Aber wir waren so geschwächt, dass wir an einem Gebirgspass einem Stamm von Eingeborenen in die Hände fielen, die das Wort des Propheten noch nie gehört, oder, falls doch, sich darüber hinweggesetzt hatten, was noch schlimmer ist. Jedenfalls war es bei ihnen Brauch, dass ein Jüngling erst dann in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen werden und sich eine Frau nehmen konnte, wenn er einen Feind kastriert und dessen Manneszier dem obersten Schamanen dargebracht hatte. Und so wurde jeder Mann aus meinem Clan, der nicht an der Krankheit gestorben war, entmannt, mit Ausnahme von mir. Ich war nämlich hinter der Karawane hergeritten, um sie vor Überfällen von hinten zu warnen. Ich saß auf einem trefflichen Hengst. Als ich so etwas wie Kampfgetümmel vernahm, preschte ich vorwärts und betete zu Allah, er möge mich im Kampf sterben lassen. Doch als ich näher kam, hörte ich nur Geschrei. Manches davon waren die Schreie der Männer, die gerade kastriert wurden, aber ich hörte auch meinen eigenen Bruder – der es bereits hinter sich hatte – meinen Namen rufen. ›Nyazi!‹, rief er, ›fliehe fort von hier, wir treffen uns in Abu Hashims Karawanserei! Du musst von nun an der Gatte unserer Frauen und der Vater unserer Kinder sein, der Ibrahim unserer Rasse.‹«
    Das quittierten alle zehn mit respektvollem Schweigen, alle bis auf einen. Jack hielt seine gewölbten Hände wie Waagschalen vor sich, bewegte sie ruckartig auf und ab und ließ dann eine fallen. »Von Wilden die Eier abgeschnitten zu bekommen, ist ein Klacks dagegen.«
    Darauf geriet Nyazi in Wut (was er sehr gut konnte) und stürzte sich, einem Leoparden nicht ganz unähnlich, auf Jack. Der fiel auf seinen Arsch und rollte sich gleich auf den Rücken – was höllisch
wehtat, denn sein Rücken war immer noch eine einzige verschorfte Wunde. Er schaffte es, seine Knie bis zu Nyazis Rippen hochzuziehen, und nutzte die Kraft seiner Beine, ihn von sich wegzustoßen. Nun lag Nyazi selbst ausgestreckt auf dem Rücken, schrie genau wie Jack es getan hatte, und wurde von Gabriel Goto und Jewgeni an die Deckplanken gepresst. Es dauerte mehrere Minuten, bis er beschwichtigt werden konnte.
    »Ich bitte dich um Verzeihung«, sagte er in überaus ernstem Ton. »Ich vergaß, dass du ja eine viel schlimmere

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