Confusion
Pocken hatten sich durch Leipzig gefressen, die beiden älteren Jungen dahingerafft und Lothar – nun der Stammhalter – so verunstaltet, wie Ihr ihn gesehen habt. Der Tod seines Onkels Egon machte Lothars Elend vollkommen.
Viel später – nämlich erst unlängst – wurde ich gewahr, dass Lothar einige sonderbare Vorstellungen davon hegt, was »wirklich« passiert sei. Lothar glaubt, dass Egon sich in der Alchimie ausgekannt habe – ja, dass er ein Adept von solcher Macht gewesen sei, dass er die schwersten Krankheiten habe heilen und sogar die Toten habe wiedererwecken können. Doch den beiden Brüdern Lothars, die er fast so geliebt habe, als wären sie seine eigenen Söhne, habe er nicht das Leben retten wollen oder können. Egon sei mit gebrochenem Herzen aus Leipzig abgereist, ohne die Absicht, jemals wiederzukommen. Sein Tod im Harz sei möglicherweise Selbstmord gewesen. Oder – auch das wiederum den exzentrischen Vorstellungen Lothars zufolge – er sei möglicherweise vorgetäuscht worden, um Egons unnatürliche Langlebigkeit zu verbergen.
Ich glaube, dass Lothar, was dies angeht, nicht recht bei Sinnen ist. Der Tod seiner Brüder hat ihn in gewisser Hinsicht verrückt gemacht. Sei dem, wie ihm wolle, er glaubt an Alchimie und bildet sich ein, Egon hätte ihm, wenn er noch ein paar Jahre in Leipzig geblieben wäre, die Geheimnisse der Schöpfung mitteilen können. In den etwas über dreißig Jahren seither hat Lothar nicht aufgehört, diesen Geheimnissen mit seinen eigenen Methoden selbst nachzuspüren.
Was nun die infame Herzogin von Oyonnax angeht...
»Ich habe doch Anweisung gegeben, mich nicht zu stören.«
»Bitte verzeiht mir, Mademoiselle«, sagte die kräftige Holländerin in passablem Französisch, »aber es ist Madame la Duchesse d’Oyonnax, und sie lässt sich nicht abweisen.«
»Dann verzeihe ich dir, Brigitte, denn sie ist ein schwieriger Fall; ich werde sie sofort empfangen und diesen Brief später zu Ende lesen.«
»Mit Verlaub, Ihr werdet ihn morgen zu Ende lesen müssen, denn in wenigen Stunden treffen die Gäste ein, und wir haben noch nicht einmal mit Eurem Haar begonnen.«
»Na schön – dann also morgen.«
»Wo soll ich Madame la Duchesse hinführen?«
»In den Petit Salon. Es sei denn...«
»Dort empfängt gerade Madame la Duchesse d’Arcachon ihre Cousine, die große.«
»Dann in die Bibliothek.«
»In der Bibliothek plagt sich Monsieur Rossignol mit ein paar unheimlichen Dokumenten, Mademoiselle.«
Eliza holte tief Luft und atmete langsam aus. »Dann sag mir, Brigitte, wo es im Hôtel Arcachon einen Raum geben könnte, der nicht mit zu früh gekommenen Gästen bevölkert ist.«
»Könntet Ihr sie in... der Kapelle empfangen?«
»Abgemacht! Lass mir noch einen Moment Zeit. Und, Brigitte?«
»Ja, Mademoiselle?«
»Gibt es schon Nachricht von Monsieur le Duc?«
»Nicht, seit Ihr das letzte Mal gefragt habt, Mademoiselle.«
»Die Jacht des Duc d’Arcachon wurde am sechsten Oktober gesichtet, wie sie sich Marseille näherte. Vom Schiff aus wurde mittels Signalflaggen befohlen, dass am Hafen eine Kutsche mit schnellen Pferden zur sofortigen Abfahrt bereitzustellen sei. So viel wissen wir von einem Boten, der sofort nach Norden geschickt wurde, als man alles, was ich Euch eben geschildert habe, von einem Kirchturm in Marseille aus mit einem Fernrohr beobachtet hatte«, sagte Eliza. »Diese Nachricht erreichte uns heute am frühen Morgen. Wir können nur annehmen, dass sie einige Stunden Vorsprung hatte und der Herzog selbst jeden Moment auftauchen wird; aber es steht nicht zu erwarten, dass jemand in diesem Haushalt mehr wissen kann als das.«
»Monsieur le Comte de Pontchartrain wird enttäuscht sein«, sagte die Herzogin von Oyonnax mit gedankenverlorener Stimme. Sie nickte einem Pagen zu, der sich verbeugte, sich rückwärts aus der Kapelle schob, dann auf dem Absatz kehrtmachte und davonstob. Eliza Gräfin de la Zeur und Marie-Adelaide Herzogin von Oyonnax waren nun in der Privatkapelle der de Lavardacs allein. Die d’Oyonnax allerdings, die niemals etwas dem Zufall überließ, öffnete als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme die Türen des kleinen Beichstuhls an der Rückwand, um sich zu vergewissern, dass er leer war.
Die Kapelle nahm eine Ecke des Besitzes ein. Öffentliche Straßen liefen am vorderen Ende, wo der Altar stand, und an einer Seite entlang.
In diese Seitenwand waren mehrere Buntglasfenster eingelassen, die hoch und schmal waren und etwas
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