Confusion
die Frage. Die Frage war: Hatte irgendwer Jack und Eliza in dieser Stunde in Amsterdam zusammen gesehen?
Die Antwort lautete: Natürlich hatte sie jemand zusammen gesehen, denn sie war, wie sie später erfahren hatte, die ganze Zeit von zwei Spionen im Sold von d’Avaux beschattet worden. D’Avaux! Der sie in
ebendiesem Moment vom anderen Ende des Ballsaals aus anfunkelte, als wäre das Gedankenlesen für ihn ebenso einfach wie das Lesen von Codes für Rossignol. Später hatte Wilhelm von Oranien die beiden Spione d’Avaux’ eigenhändig getötet. Aber d’Avaux war am Leben, und er wusste Bescheid.
Die ganze Zeit hatte die Kutsche des Herzogs so reglos wie ein Ei in einem Steinsarkophag im Hof gestanden. Der Schlag war geöffnet, und einer der Lakaien hatte Kopf und Oberkörper in das dunkle Innere gesteckt und ein paar Kerzen entzündet. Ab und zu bewegte sich sein Arm, als versuchte er immer wieder, einen müden Insassen wachzurütteln. Denen im Saal – an die hundert Angehörige des Hochadels von Frankreich – kam die Verzögerung sehr gelegen, da sie ihnen Gelegenheit bot, sich zu einem langen Empfangskomitee zu formieren, das sich in Kurven und Windungen durch den Ballsaal zog. Vor der Flügeltür hatten Diener einen Teppich ausgerollt, sodass der Herzog und später der König auf roter Wolle anstatt auf grauem Schnee gehen konnten. Zu beiden Seiten dieses scharlachroten Weges hatte eine Ehrengarde Aufstellung genommen: Angehörige von Étiennes Kavallerieregiment auf der einen Seite und ihnen gegenüber ein Detachement Marinesoldaten. Étienne stand, seine Mutter am Arm, unmittelbar hinter der Tür und wartete.
Schließlich tat sich etwas. Die Kavalleristen und die Marinesoldaten zogen Säbel bzw. Entermesser und hoben sie zu einem stählernen Bogen über dem roten Teppich. Étienne nickte zwei Dienern zu, die die riesigen Türflügel des Ballsaals öffneten, sodass ein Schwall schneehaltiger Luft hereinfegte, Étienne verzog das Gesicht und trat einen halben Schritt zurück; seine Mutter, die Herzogin, neigte den Kopf und griff mit ihrer freien Hand nach oben, um zu verhindern, dass ihr aus Spitze bestehender Kopfschmuck weggerissen wurde. Draußen war zu sehen, wie sich der schlammbespritzte Hosenboden des Lakaien ruckend und ziehend rückwärts aus dem Schlag der weißen Kutsche schob: offenbar half er jemandem heraus, der viel Hilfe brauchte.
Eliza gewann einen immer besseren Blick auf die Vorgänge, denn sie wurde dank einer Art sozialer Peristaltik der Spitze des Empfangskomitees entgegengenötigt. Selbst Herzöge und Herzoginnen ließen Eliza, die man inzwischen als eine de Lavardac ehrenhalber ansah, unter den gegebenen Umständen den Vortritt. Niemand in der Schlange machte ihr Platz, sondern alle bestanden darauf, dass sie weiter nach
vorn ging. Und so strebte sie immer weiter der offenen Tür entgegen und sah sehr deutlich, was da aus der Kutsche kam.
Es war kein Herzog. Das Wort »Elendsgestalt« kam einem in den Sinn, denn der Mann konnte sich kaum auf den Beinen halten, und falls er eine Perücke besaß, so hatte er sie verloren oder in der Kutsche vergessen. Sein schütteres Haar war kurz und dunkel und von Schweiß und Talg verklebt, und das Gesicht darunter war so bleich, dass es fast grün wirkte. Er konnte ohne Hilfe weder stehen noch gehen, und dennoch wollte er um keinen Preis ein schweres, sperriges Gepäckstück loslassen: eine Art große Kassette. Sie hatte auf jeder Seite einen Griff. Einer der Lakaien stützte die Elendsgestalt auf deren rechter Seite. Die Elendsgestalt hielt mit der linken Hand einen der Griffe der Kassette umklammert. Der andere Lakai hatte den anderen Griff gerade noch zu fassen bekommen, ehe die Kassette aus der Kutsche hatte fallen können. So bildeten sie eine Dreierreihe – Lakai, Elendsgestalt, Lakai – und traten unbeholfen den Gang über den roten Teppich an.
Eliza war der Tür inzwischen so nahe gekommen, dass sie hörte, wie Étienne seine Mutter fragte: »Ist das Pierre de Jonzac?« Sie sah sofort, dass die Elendsgestalt kein anderer war. Denn die schmutzigen, zerrissenen und fleckigen Kleider, die er trug, waren einmal die Uniform eines Marineoffiziers gewesen. Und wenn sie die Elendsgestalt in Gedanken säuberte, ihre Kleider flickte und sie mit dreißig Pfund mehr Körpergewicht, einigen Litern Blut und einer anständigen Perücke ausstattete, so war das Ergebnis Monsieur de Jonzac sehr ähnlich.
Da sie dies sah, entwickelte Eliza in
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