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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Gedanken eine Theorie über die Vorgänge, die falsch war; allerdings war sie den Theorien aller anderen nicht allzu unähnlich, und diese Theorien sollten ihr Handeln bestimmen, bis sie mehr wussten. Die Theorie war, dass der Duc d’Arcachon sich noch in der weißen Kutsche befand, sich für die Gesellschaft frisch machen ließ und seinen Adjutanten de Jonzac mit einer Schatztruhe voller Beute vorausgeschickt hatte, die in irgendeinem schrecklichen, Kräfte raubenden Gefecht, über das dem König von Frankreich sogleich berichtet werden würde, verdientermaßen und tapfer errungen worden war. Eliza kam sogar der Gedanke, dass der Herzog, nachdem er unerwarteterweise in den Besitz einer kleinen Menge von Zaubergold anstatt einer großen Menge von Silberbarren gelangt, ohne Halt geradewegs durch Lyon hindurchgaloppiert war und es direkt hierhergebracht hatte. Riskant – aber ungemein verwegen, sodass sie den
Mann fast dafür bewunderte. Sie drehte sich um, um Pater Édouard de Gex auf sich aufmerksam zu machen, der nicht weit weg stand; er machte sich offenbar ähnliche Vorstellungen, und sein Blick war bereits auf die Kassette gerichtet. Irgendjemand neben ihm allerdings erwiderte Elizas Blick; im Aufschauen sah sie sich von dem nicht zu deutenden Funkeln von Louis Anglesley, Earl of Upnor, aufgespießt.
    De Jonzac, die Lakaien und die kleine Truhe hatten zwei Drittel des Weges bis zur Tür zurückgelegt. Je näher sie dem Licht kamen, desto bejammernswerter sahen sie aus. Die Lakaien hatten eine Woche lang hinten auf der Kutsche gestanden, und ihre Gesichter und Livreen waren mit Straßenschmutz überzogen. Unter dem grauen Dreck war ihre Haut von der Kälte gerötet; doch de Jonzac war durch und durch grau. Seine Lippen waren verschwunden, denn sie hatten die gleiche Farbe wie das sie umgebende Fleisch, und sie bewegten sich unaufhörlich, als versuchte er, etwas zu sagen. Doch wenn er irgendeinen Laut von sich gab, so konnte Eliza ihn aus dieser Entfernung nicht hören. Étienne begrüßte de Jonzac, bekam aber keinerlei Reaktion oder Antwort. Er und die Herzogin traten zur Seite, damit die sperrige Parade durch die Tür passte. Eliza hegte nun nicht mehr den geringsten Zweifel, dass irgendetwas fürchterlich schiefgegangen war; doch die meisten anderen im Saal arbeiteten noch immer an der falschen Theorie. Das galt sogar für den armen Étienne, der spürte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, aber von der Etikette an seinem Platz festgehalten wurde. Er wandte sich der weißen Kutsche zu, um seinen Vater zu begrüßen, der ihr als Nächster hätte entsteigen müssen; doch der offen stehende Schlag zeigte, dass das Gefährt leer war. Ein Stallbursche schloss den Schlag und klopfte zweimal dagegen, und der Kutscher ließ seine kleine Peitsche knallen und zwang die halbtoten Pferde zu einer letzten, kurzen Fahrt in den Stallhof.
    »Pater Édouard!«, sagte Eliza mit erhobener Stimme, um sich über dem erstaunten Gemurmel, das durch die Reihen der Gäste lief, Gehör zu verschaffen. »Bitte kümmert Euch um Monsieur de Jonzac; er ist schwer verwundet.« Elizas Nase hatte dies bestätigt, denn de Jonzac und die Lakaien waren mittlerweile an ihr vorbeigewankt, und in ihrem Kielwasser hatte sie einen Geruch nach verwesendem Fleisch wahrgenommen. De Jonzac hatte Wundbrand. Die Lakaien, vor Erschöpfung halb von Sinnen, wollten de Jonzac nur irgendwo auf dem Boden niederlegen; stattdessen waren sie in einen offiziellen Hofball hineingestolpert. Sie waren völlig verblüfft, hilflos.

    De Gex hatte es ebenfalls gerochen. Er trat rasch vor und verstellte den Lakaien den Weg. »Legt ihn nieder. Es ist gut. Ganz sachte...« (Zum Majordomus) »Monsieur! Bringt Decken und eine Liege oder irgendetwas, was sich als Trage eignet. Jemand anders soll einen Wundarzt rufen.« (Zu de Jonzac, der nun, den Kopf auf de Gex’ Handteller, auf dem gewachsten Boden lag:) »Was sagt Ihr? Ich kann Euch nicht verstehen, Monsieur – bitte spart Eure Kräfte, es kann warten.«
    De Gex schien die Sache so gut im Griff zu haben, dass Eliza beschloss, zu Étienne zu gehen (dem eine sich bewegende Wand aus neugierigen Höflingen die Sicht auf de Gex und de Jonzac versperrte) und ihn über die Vorgänge zu informieren. Sie fand ihn noch immer von einem unlösbaren Rätsel der Etikette gelähmt; denn sobald die weiße Kutsche des Herzogs den Platz geräumt hatte, war die goldene des Königs an ihre Stelle gerattert, und soeben wurde der Schlag

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