Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
Vom Netzwerk:
geöffnet. Denn noch hatte kein Angehöriger der Entourage des Königs die leiseste Ahnung, dass etwas schiefgegangen war. Und nun war es zu spät, ihnen das zu sagen, denn der König stand, die Marquise de Maintenon am Arm, am Anfang des Teppichs.
    Eliza wirbelte herum und sagte: »Der König!« – das einzige Wort, das imstande war, das Gedränge um de Jonzac und de Gex aufzulösen. Das Empfangskomitee formierte sich neu, schlug allerdings einen weiten Bogen um den Hingestreckten und die beiden, die sich um ihn zu schaffen machten: de Gex, der auf dem Boden kniete und sich über de Jonzac beugte, um ihn zu verstehen, und der Earl of Upnor, der an der Kassette einen Riegel nach dem anderen öffnete und immer noch einen entdeckte.
    Dem König wurde dies alles sofort offenbar, da sich die Menge aus seinem Gesichtsfeld verflüchtigte wie Frost in der Sonne. Er war der einzige Mensch im Hôtel Arcachon, der die Freiheit besaß, sich normal zu verhalten. Denn in Gegenwart des Königs durfte man niemand anderen als den König zur Kenntnis nehmen. Daher beispielsweise die unnatürliche Haltung von Étienne d’Arcachon, der reglos dastand und der Szene im Saal den Rücken zuwandte, als wäre überhaupt nichts geschehen. Der König allerdings hatte nur Augen für de Jonzac. Er überholte die de Maintenon um einen halben Schritt, wandte sich ihr dann zu und sagte ein paar Worte, mit denen er sich ausgesucht höflich entschuldigte. Dann schritt er allein vorwärts und wandte sich im Vorbeigehen Étienne und der Herzogin zu, die er mit einem kurzen »Monsieur, Madame« bedachte. Er kam in den Ballsaal,
riss sich seinen Umhang von den Schultern und ließ ihn mit der gleichen Bewegung herabwirbeln, sodass er den zitternden Körper von Pierre de Jonzac bedeckte. Dann trat der König einen Schritt zurück, warf sich, den Oberkörper gerade, einen Fuß mit leicht nach außen gerichteter Spitze knapp vor den anderen gesetzt und das Haupt seinem verletzten Untertan zugeneigt, in Pose und verlangte von de Gex zu wissen: »Was sagt er?«
    »Mit Verlaub, Eure Majestät«, sagte de Gex. Er hielt schon seit einiger Zeit Ruhe gebietend die Hand hoch. Doch das Eintreffen des Königs hatte den Saal zum Schweigen gebracht, wie nichts anderes es vermocht hätte. De Gex beugte sich nun ganz dicht an de Jonzac heran, sodass dessen Lippen praktisch sein Ohr berührten, und wiederholte, was er hörte:
    »Die Tat... deren Zeuge Ihr gleich sein werdet... wurde für eine Frau begangen... deren Namen... ich nicht nennen werde... denn sie weiß, wer sie ist... und sie wurde begangen von... ›Schuss-in-den-Ofen‹-Jack Shaftoe, L’Emmerdeur, dem König der Landstreicher, Ali Zaybak: Quecksilber!«
    »Wovon um alles in der Welt redet er nur?«, fragte der König. »Was für eine Tat?« Es war nur gut, dass er irgendetwas sagte, denn allen anderen hatte es angesichts dessen, dass der verbotene Name ausgerechnet an diesem Ort fiel, die Sprache verschlagen.
    Upnor hatte sich weiterhin die ganze Zeit an den Haspen der Kassette zu schaffen gemacht – etwas unschicklicherweise, doch schließlich war er bloß Engländer. Endlich bekam er sie auf. Mit einem Krachen und einem Scheppern warf er den Deckel zurück und steckte in seinem Eifer, an den Schatz im Inneren heranzukommen, praktisch den Kopf in den Hohlraum. Im nächsten Augenblick aber fuhr er zurück, als wäre eine Kobra aus dem Kasten geschnellt. Er stieß sogar einen langen, unartikulierten Schrei aus. Ein paar Umstehende schrien ebenfalls und wandten den Blick ab.
    »Damen und Personen von empfindsamem Gemüt mögen ihre Augen abwenden«, sagte der König, der ein paar Schritte zurücktrat.
    Étienne de Lavardac, Madame la Duchesse d’Oyonnax, Monsieur le Comte d’Avaux und ein paar andere traten näher, um zu sehen, worum es sich handelte. De Gex, der am nächsten stand, beugte sich über den Kasten, griff mit der rechten Hand hinein, schlug ein Kreuz und murmelte einen lateinischen Satz. Dann richtete er sich auf und hob einen abgetrennten Menschenkopf heraus.

    »Louis-François de Lavardac, Duc d’Arcachon, ist nach Hause gekommen«, verkündete er. »Er ruhe in Frieden.«
     
    Nun hatte Eliza in diesem Moment alles andere als einen klaren Kopf; dennoch hatte sie von allen Anwesenden, ausgenommen vielleicht den dahingegangenen Herzog, noch den klarsten. Obwohl sie noch immer in großen Schwierigkeiten war – ja viel größeren als noch vor drei Minuten -, wusste sie zweierlei mit

Weitere Kostenlose Bücher