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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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improvisierten Sägeböcken überspannte und mit einem fleckigen, zerschlissenen Tuch bedeckt war. Neben der Bibel lag ein zweiter Wälzer, den Jack als Gesangbuch erkannte, und daneben ein kleines Gedeck, bestehend aus einem Porzellanteller, der von einem rostigen Messer und einer Gabel flankiert war.
    Jack schien in einer Pause dazugekommen zu sein, die jedoch bald endete, als ein junger Hindu, ein tropfendes Etwas in den gewölbten Händen, vom nahegelegenen Markt herbeigerannt kam. Die Menge teilte sich für ihn. Er hastete hindurch und legte es mitten auf den Teller des Fakirs: eine metallgraue Innerei, aus der Blut und klare Flüssigkeit tröpfelten. Dann machte er einen Satz rückwärts, als hätte er sich die Hände verbrannt, und rannte los, um sie an einem Stückchen Gras in der Nähe abzuwischen.
    Der Fakir saß eine Weile da, schaute die Niere mit würdevollem Ernst an und wartete darauf, dass das Stimmengewirr in der Menge
sich legte. Erst als sich völlige Stille über den Maidan gelegt hatte, griff er nach Messer und Gabel. Er nahm ein Teil in jede Hand und ließ das Besteck einige qualvolle Minuten lang über dem Organ schweben. Die Menge wurde von einer Art Zuckung erfasst, als jeder Zuschauer sich einen besseren Blickwinkel zu verschaffen suchte.
    Der Fakir schien die Nerven zu verlieren und legte das Besteck wieder hin. Ein Seufzer der Erleichterung und der Enttäuschung ging durch die Zuschauermenge. Jemand sprang auf und warf einen Paisa auf den Tisch. Der Fakir legte in andachtsvoller Haltung die Hände zusammen und murmelte eine Weile unverständlich vor sich hin; dann griff er nach seiner Bibel, schlug sie auf und las ein oder zwei Abschnitte, wobei er ins Stocken geriet, wenn er an Stellen kam, die von Bücherwürmern zerfressen waren. Da es jedoch eine Passage aus dem Alten Testament war, in der viel »gezeugt« wurde, machte das kaum etwas aus.
    Wieder nahm er Messer und Gabel zur Hand und kämpfte eine Weile mit sich, und wieder verlor er die Nerven und legte sie hin. Die Spannung in der Menge wuchs. Mehr und größere Münzen klimperten auf dem Brett. Der Fakir nahm das Gesangbuch, stand auf und grölte ein paar Zeilen jenes alten puritanischen Gassenhauers:
    Schickst, Herr, am Ende meiner Tage
Du mich in dunkler Hölle Nacht,
so geh ich schnell und ohne Klage,
Geworf’ner Stein im Brunnenschacht ...
Denn auch wenn ich mich redlich mühte,
Zu folgen Deinem göttlich’ Wort,
Wie könnt ich fordern Deine Güte?
Zu Recht werd schmachten ich hinfort!
    ...und weiter in der Art, bis der Feuerschlucker und der Derwisch ihn anschrien, er solle das Maul halten.
    Der christliche Fakir tat, als hörte er ihre Proteste gar nicht, klappte das Gesangbuch zu, griff zum dritten Mal nach Messer und Gabel und durchbohrte – nachdem er endlich die spirituelle Kraft dazu aufgebracht hatte – die Niere. Ein Urinstrahl spritzte heraus und ergoss sich fast auf einen vorwitzigen Jungen, der mit einem Aufschrei zurückwich. Der Fakir ließ sich, während er ein Stück von dem Organ absägte, ausgesprochen viel Zeit. Der Kreis um ihn schloss sich noch
enger, aber nicht, weil irgendjemand wirklich näher kommen wollte, sondern weil die Leute sich gegenseitig die Sicht nahmen. Der Fakir spießte das Stück mit der Gabel auf und hielt es so weit in die Höhe, dass selbst die Zuschauer in der hintersten Reihe es noch gut sehen konnten. Dann steckte er es mit einer einzigen schnellen Bewegung in den Mund und begann, es zu zerkauen.
    Manche rannten kreischend davon. Aus verschiedenen Richtungen fielen vereinzelte Münzen auf den Fakir. Als aber sein Adamsapfel sich auf und ab bewegt hatte und er den Mund weit aufmachte, um zu zeigen, dass er leer war, und die Zunge nach hinten rollte, damit man sehen konnte, dass er nichts versteckte, ging ein wahrer Hagel von Paisas und sogar Rupien über ihm nieder.
    »Eine bewegende Vorstellung, Mr. Foot«, sagte Jack eine halbe Stunde später, als sie alle zusammen aus der Stadt hinausritten. »All diese vielen Monate, die ich krank war vor Sorge um Euch und mich gefragt habe, wie Ihr wohl zurechtkommt – völlig grundlos, wie man sieht.«
    »Wirklich aufmerksam von Euch, Jack, ungebeten hier aufzutauchen, um meine Armut mit mir zu teilen«, sagte Mr. Foot mürrisch. Jack hatte ihn unvermittelt und nicht gerade sanft von dem Maidan geholt; er hatte sogar die Hälfte der Niere ungegessen auf dem Teller zurücklassen müssen.
    »Schade, dass ich die Vorstellung nicht gesehen

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