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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Khambat lief, jene kaum sichtbare, verschwommene gräuliche Fläche am östlichen Horizont. Die Kreuzung von Straße und Fluss wurde von einer Lehmziegelfestung beherrscht, und um die Festung herum lag eine kärgliche, ummauerte Stadt. Jack wusste bereits, was sie dort vorfinden würden: einen Anlegeplatz für Schiffe, die flussaufwärts vom Golf kamen, und einen Marktplatz, auf dem Stücke Indiens an Banyans und Europäer verkauft wurden.
    Jack sagte: »Es wird gut tun, Vrej und Arlanc wiederzusehen, vorausgesetzt, sie sind noch am Leben, und ich werde mir auch gerne ihre Kriegsgeschichten anhören. Ich weiß aber schon, was sie uns erzählen würden, wenn sie jetzt hier wären.«

    Diese Äußerung schien Padraig und Surendranath zu beunruhigen, und deshalb erklärte Jack: »Es muss irgendeinen Vorteil haben, alt zu werden, sonst würden wir es uns doch nicht gefallen lassen?«
    »Du bist nicht alt«, sagte Padraig, »du kannst doch noch nicht mal vierzig sein.«
    »Langsam! Ich habe mehr erlebt als die meisten alten Männer. Buchstaben habe ich nicht gelernt, Zahlen auch nicht, und so kann ich weder ein Buch lesen noch ein Schiff steuern oder den richtigen Winkel für ein Artilleriegeschütz berechnen. Aber Menschen kenne ich gut – besser als mir lieb sein sollte -, und deshalb ist mir die Situation von Hindustan nur allzu klar. Sie ist klar, wenn ich dich, Surendranath, von den Mongolen, und dich, Padraig, von den Engländern reden höre.«
    »Möchtest du deine Weisheit vielleicht mit uns teilen, oh Jack?«, fragte Padraig.
    »Wenn Vrej und Monsieur Arlanc hier wären, würden sie uns sagen, dass die Marathen aggressiv und gut organisiert sind und den Tod nicht fürchten, dass die Mongolen hochmütig und korrupt sind – und dass die Herrscher dieses Reiches selbst dann, wenn sie irgendeine Marathen-Festung belagern, besser leben als die Hindus in Friedenszeiten. Mit anderen Worten, sie würden uns erzählen, dass diese Rebellion eine ernst zu nehmende Angelegenheit ist und wir Surendranaths Karawane nicht mittels Zaubersprüchen oder Bestechung von Surat nach Delhi bekommen.«
    »Du scheinst mir beibringen zu wollen, dass es unmöglich ist«, sagte Surendranath. »Vielleicht sollten wir umkehren und zur Wohnung des Staubs zurückgehen.«
    »Surendranath, was möchtest du lieber sein: der erste Vogel, der von der Eisscholle runterspringt, oder der erste Vogel, der, den Bauch voller Fische, wieder draufklettert?«
    »Die Frage beantwortet sich von selbst«, sagte Surendranath.
    »Wenn du auf meinen Rat hörst, wirst du nicht Ersterer, sondern Letzterer sein.«
    »Du meinst, andere Karawanen werden Surat vor uns verlassen und den Rebellen zum Opfer fallen«, übersetzte Surendranath.
    »Ich denke, jede Karawane, die nach Delhi unterwegs ist, wird sich an irgendeinem Punkt mit der marathischen Armee auseinandersetzen müssen«, sagte Jack. »Die erste derartige Karawane, die die Marathen aus dem Weg räumt, wird die erste sein, die das Ziel ihrer Reise erreicht.«

    »Ich kann keine Armee anheuern«, sagte Surendranath.
    »Ich habe nicht gesagt, dass du eine Armee anheuern musst. Ich sagte, du musst die Marathen aus dem Weg räumen.«
    »Du redest wie ein Fakir«, sagte Surendranath finster.
     
    Auf dem Maidan dieser Stadt am Fluss tummelte sich ein mehr oder minder typisches Spektrum hinduistischer und mohammedanischer Fakire. Einige waren mit dem alten Arme-hinter-dem-Kopf-gekreuzt-Trick zufrieden. Ein Hindu schluckte Feuer, ein rotgerockter Derwisch wirbelte herum, ein anderer Hindu stand, mit rotem Staub bedeckt, auf dem Kopf. Und dennoch hatten die meisten von ihnen leere Bettelschalen und wurden von den Stadtbewohnern ignoriert. Eine Gruppe von ungefähr zwanzig Faulenzern, barfüßigen Jungen, Passanten, herumziehenden Hausierern und Flussschiffern hatte sich um irgendein Schauspiel am Ende des Maidan geschart.
    Sie drängten sich so eng zusammen, dass Jack, hätte er nicht auf einem Pferd gesessen, das Ziel ihrer Aufmerksamkeit gar nicht hätte sehen können: einen grauhaarigen Europäer, dessen Kleidung in England schon vor Jacks Geburt aus der Mode gekommen war. Er trug einen schwarzen Gehrock, einen breitkrempigen schwarzen Pilgerhut und ein durchgescheuertes Hemd, das ihn wie einen bibeltreuen puritanischen Wanderprediger erscheinen ließ. Und tatsächlich lag eine von Würmern zerfressene alte Bibel auf einem niedrigen Tisch – eigentlich einem Brett, das ganz knapp den Zwischenraum zwischen zwei

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