Confusion
Reis! – nach Marseille, aber niemand hat die Mittel, ihn zu kaufen, denn die Quellen unserer Währung sind völlig versiegt. Die Befehlshaber unseres Heeres schleichen niedergedrückt in Versailles umher und wünschen, sie hätten den Weitblick besessen, in die Marine einzutreten – da sie aufgrund von mangelndem Hartgeld und sogar fehlendem Kredit dieses Jahr nicht kämpfen, sondern nur in ihren Festungen hocken können, Krankheiten erliegen und etwaige Vorstöße zurückschlagen, welche die Engländer gegen sie unternehmen mögen – immer vorausgesetzt, England hat überhaupt einen Pfennig Geld.
Lasst mich, Madame, in jedem Falle wissen, ob dieses Schreiben Euch erreicht hat und wie Euer Reiseweg aussieht. Ich weiß, Ihr möchtet über den jüngsten Briefwechsel zwischen Vrej Esphahnian und seiner Familie informiert werden. Ich werde lange brauchen, um den Bericht zu verschlüsseln. Wenn ich der Landkartensammlung meines verstorbenen Vaters Glauben schenken kann, liegen zwischen Euch und Eurem Ziel dreihundert Meilen gewundener Elbe; das müsste Euch ausreichend Zeit für die Entschlüsselung verschaffen. Vielleicht kann ich dafür sorgen, dass der Bericht Euer Flussschiff in Hitzacker, Schnackenburg, Fischbeck oder einem der anderen, so wohlklingend benannten Dörfer einholt, die den Karten meines Vaters zufolge bald von der Anmut und Schönheit der Duchesse d’Arcachon und ihres Säuglings Adelaide geziert sein werden.
Bon. Ross.
Eliza an Rossignol
MÄRZ 1694
Bon-bon,
Euer Schreiben hat mich in Hamburg erreicht, wo wir mit Flussschiffern verhandelt und Proviant für die Reise ins Landesinnere gekauft haben. In welch bitterer, verdrießlicher Stimmung Ihr wart, als Euch dies aus der Feder floss! Ein paar Anmerkungen:
- Adelaide ist kein Säugling, sondern ein Kleinkind von vierzehn Monaten, das an Deck umhersaust und von einem Geschwader gebückter Ammen, die alle schreckliche Angst haben, dass sie über Bord geht, im Watschelgang verfolgt wird.
- Hitzacker soll ein sehr schönes Dorf sein; es tut mir leid, dass Euch der Name nicht gefällt.
- Der prekäre Zustand des Handels ist mir wohlbekannt; wer, glaubt Ihr, hat dafür gesorgt, dass der Reis aus Ägypten geliefert wird? Findet Ihr es schlecht, dass dieses Jahr keine großen Schlachten stattfinden? Und habt Ihr vergessen, dass mein Sohn Lucien im vergangenen Winter erkrankt und gestorben ist? Wo war mein goldener Nimbus der Prosperität, als der Todesengel ihn in St. Malo holen kam? Wirklich, Ihr vergesst Euch völlig.
Aber ich verzeihe Euch. Die Bitterkeit, mit der Ihr Euch äußert, verrät mir viel Nützliches über die Stimmungslage unter den Standespersonen von Paris und Versailles. Wenn es Euch beruhigt, so wisst, dass die Konfusion, über die Ihr Euch beklagt, der Todeskampf eines alten Systems ist – wie wenn das Herz eines Menschen zu schlagen aufhört, seine Gliedmaßen aber noch eine Zeitlang zucken. Die Engländer haben das, weil sie eine kleine und aufrührerische Nation sind, einige Jahre früher als die Franzosen begriffen. Aber vielleicht räumt man ihnen damit auch zu viel Kredit ein. Sie haben es nicht begriffen, sondern gespürt. Die Quecksilberflut, die sich zur Zeit der Pest und des großen Brandes in jenem Land erhob, brachte eine Generation von mehr als nur durchschnittlich klugen Köpfen hervor – einige, wie etwa Newton, fast zu hochgespannt, um die Welt ertragen zu können.
Diese Leute hatten schon einmal Macht, wussten aber nichts damit anzufangen und verloren sie wieder. Im Exil bildeten sie den Junto, der bei den jüngsten Wahlen die Regierung übernommen hat. Was der Junto im kommenden Jahr in Angriff nimmt – die Bank von England, die Neuprägung etc. -, sind die Anfänge der neuen Verhältnisse, welche die alten ersetzen werden, die tot sind oder im Sterben liegen. Frankreich hinkt hinterher, da es in seinem Wesen mehr Blei und weniger Quecksilber enthält und weil es an einem Junto fehlt; doch hier sind die gleichen Kräfte wirksam.
Als Beispiel müsst Ihr Euch nur Lyon anschauen. Als Lothar von Hacklheber 1692 nach Lyon reiste und von Monsieur Castan eine halbe Million livres tournoises in französischen Staatsobligationen für in London zu lieferndes Silber akzeptierte, dachte sich kein Mensch etwas dabei. Es war gewiss eine große Transaktion, aber insgesamt doch alltäglich. Wärt Ihr damals zu ihm oder einem der anderen deutschen oder Schweizer Bankiers in Lyon gegangen und hättet gesagt: »Das ist das
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