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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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entfahren sind. Und so ist dies für ihn keine sonderlich produktive Zeit; doch das trifft angesichts von Hunger und Geldmangel auf ganz Frankreich zu, und so sticht er nicht aus der Menge hervor.
    Bonaventure Rossignol

Pretzsch, Sachsen
    APRIL 1694
    Prinzessin Wilhelmina Caroline von Brandenburg-Ansbach hatte Eliza seit dem Sommer 1689, als sie einander das letzte Mal gesehen hatten, fast jede Woche geschrieben. Caroline war damals sechs Jahre alt gewesen. Jetzt war sie knapp elf. Die Handschrift und der Inhalt ihrer Briefe hatten sich entsprechend verändert. Doch während Eliza an Deck ihrer Zille – des schlanken, hundert Fuß langen Flusskahns, den sie in Hamburg gemietet hatte – stand und die grünen Ufer der Elbe absuchte, hielt sie nach der jungen Mutter und dem kleinen Mädchen Ausschau, denen sie vor fünf Jahren in Den Haag Lebewohl gesagt hatte. Sie konnte nicht anders. Einem Kind kommt an Erwachsenen nichts dümmer vor als ihre Unfähigkeit zu begreifen, dass Leute wachsen. Unsagbar schwachköpfig erscheinen ihnen die Tante
oder der Großpapa, die bei jeder Zusammenkunft »Du bist aber groß geworden!« rufen. Eliza wusste dies so gut wie jeder, der einmal ein Kind gewesen ist. Und dennoch wurde sie von den beiden Frauen auf dem Landesteg überrumpelt. Sie hatten ihr zugewinkt, während die Zille näherkam, und sie hatte sie ebensowenig beachtet wie das Vieh, das auf den vom Ufer aufsteigenden, sanft gewellten Wiesen weidete.
    Als Entschuldigung – wenn sie denn eine brauchte – konnte sie anführen, dass sie von der langen Reise erschöpft war und sich heute besonders benommen fühlte. Doch selbst bei wachstem Bewusstsein hätte sie diesen Landesteg vielleicht nicht bemerkt, weil er so bescheiden war. Sie war nun seit einem Monat auf diesem Fluss und hatte eine unüberschaubare Anzahl von Kais, Piers, Brücken, Furten und Anlegeplätzen gesehen. Manche, in größeren Städten, waren summende entrepôts - Amsterdam im Miniaturformat. Manche, am Fuße hochherrschaftlicher Landsitze, waren barocke Steinklötze mit Gusseisenschnörkeln, dazu gedacht, die anderen Barone zu beeindrucken. Andere waren wenig mehr als flache Stellen am Ufer, wo die Bauern ihre Karren heranfahren und mit den Flussschiffern Handel treiben konnten. Doch der einzige Grund, warum dieses Gebilde außerhalb von Pretzsch einen zweiten Blick verdiente, war, dass die beiden Frauen ihr Leben riskiert hatten, indem sie ihm ihr Gewicht anvertrauten. Vor hundert Jahren hätte es eine Kutsche samt Gespann tragen können, vor zweihundert ein Haus. Heute war es nur noch ein schiefer Wirrwarr schwarzen Pfahlwerks, das langsam zu Schleim verrottete. Die Hälfte der Planken war gestohlen worden, die andere Hälfte diente Sträuchern und Gras als Erde. Die heftig winkenden Frauen bewiesen, indem sie sich daraufgewagt hatten, große Tapferkeit. Die schlankere der beiden legte so etwas wie Tollkühnheit an den Tag, denn sie hüpfte auf und ab. Wenigstens waren sie so vernünftig gewesen, ihren Wagen auf terra firma zu lassen – er hielt am Fuße eines schlammigen Weges, der sich von einem zerzausten Hain herabwand, hinter dem sich ein Gebäude verbergen mochte. Zu beiden Seiten des Wagens reckte sich ein Steinfinger in die Höhe, wie um den Wind zu prüfen. Um diese Steinfinger herum breitete sich eine Moräne von vereinzelten Blöcken, Ziegel- und Gewölbesteinen, Überreste eines Bogens, der bei irgendwelchen vergessenen Unruhen niedergerissen worden war. Im Sommer wären die lockeren Steine von den Blättern der Büsche und mickrigen Unkrautbäumen verdeckt worden, die sich mit ihren Wurzeln zwischen sie gedrängt hatten, doch
der Winter war hier noch länger und strenger gewesen als in Frankreich, und so waren die meisten noch nicht zu einem festen Entschluss in der Frage gelangt, ob sie die Anstrengung auf sich nehmen sollten, Blätter zu treiben, oder einfach erstarren und sterben.
    Dies alles ließ das Ganze weder mehr noch weniger heruntergekommen wirken als irgendwelche anderen Elbufer-Attraktionen, die im zurückliegenden Monat an Elizas gleichgültigen Augen vorbeigezogen waren. Allerdings hätte sie an einem solchen Ort nicht unbedingt mit einer Kurfürstin und einer Prinzessin gerechnet.
    Eleonore Erdmuthe Louise, eine geborene Prinzessin, Tochter des Herzogs von Sachsen-Eisenach, hatte den Markgrafen von Ansbach, Johann Friedrich, geheiratet. Bei seinem Tode hatte man Eleonore und die dreijährige Caroline vor die Tür gesetzt,

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