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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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legt fest, dass diese in Kriegszeiten als Prisen genommen werden dürfen. Während der Rest Frankreichs in Verzweiflung versunken ist, herrscht Jean Bart in Dünkirchen über ein Goldenes Zeitalter und bringt oft Prisen ein, deren Wert ausreicht, die Rückzahlung dieser Forderungen zu gewährleisten, sofern der contrôleur-général es so abzuwickeln wünscht. Da vielleicht noch einige Wochen vergehen, bis ich nach Frankreich zurückkehren kann, empfehle ich Euch, die Sache direkt mit Kapitän Bart zu besprechen. Wenn sie Früchte trägt, können wir beide uns auf herrliche Spaziergänge im Park des Königs freuen, in deren Verlauf wir planen können, wie sich Eure großzügigen Spenden zur Verbesserung der Welt einsetzen lassen.
    Eliza

Der Witwensitz von Pretzsch
    APRIL UND MAI 1694
    Wir sind gleich stark im Leiden wie im Handeln, Und billig das Gesetz, das so befiehlt.
    MILTON, Das verlorene Paradies
     
     
    Eleonores Geschichte musste man ihr wie einen Guinea-Wurm Zoll für Zoll aus der Nase ziehen. Sie zu erzählen dauerte eine geschlagene Woche, und sie war in ein Dutzend Fortsetzungen aufgeteilt, denen jeweils anstrengende Manöver und Manipulationen vonseiten Elizas vorausgingen und die zu einem vorzeitigen Ende gebracht wurden, indem Eleonore das Thema wechselte oder in Tränen ausbrach. Doch die Müdigkeit, die Eliza am letzten Tag der Flussfahrt verspürt hatte, hatte sich zu einer Grippe entwickelt, die sie einige Tage lang mit Schmerzen und Schüttelfrösten ans Bett fesselte. Es gab also nichts anderes, womit sie sich die Stunden vertreiben konnte, und die Zeit war Eliza günstig.
    Das Erzählen begann, als Eliza, krank, mit Schmerzen, benebelt von Modergeruch und gereizt, weil ständig feuchter Putz von der Decke auf ihr Bett fiel, fragte: »Ein Witwensitz ist ein Haus, in dem eine Witwe den Rest ihrer Tage verlebt, nachdem ihr Gatte verschieden ist; aber Eurer lebt noch. Warum also bewohnt Ihr einen Witwensitz?«
    Die Antwort – wenn man sämtliche Einzelheiten zusammenfügte und die Präliminarien und Abschweifungen wegließ – lautete: Kurfürst Johann Georg IV. gehörte einer Bruderschaft an, deren Mitglieder in jedem Land der Welt und in jeder Gesellschaftsklasse zu finden waren: Männer, die als Junge einen Schlag auf den Kopf bekommen haben. Was MDAJESADKBH anging, war Johann Georg eine Schönheit. Bei manchen führte die Gehirnverletzung zu körperlichen Defekten wie etwa Siechtum, unschönen Verkrümmungen der Finger, Zuckungen, Spasmen, Sabbern etc. Johann Georg zählte nicht zu diesen; mittlerweile Ende zwanzig, hätte er in Versailles unschwer Beschäftigung als Gigolo für weibliche oder männliche Kundschaft – oder beide zugleich – finden können, denn er war ein großer, strammer
Bursche von einem Mann, und wer kannte die Grenzen seines Körpers?
    Die Grenzen seines Verstandes dagegen kannte jeder. Eleonore hätte eigentlich so klug sein müssen, ihn nicht zu heiraten; aber sie hatte ihre Pflicht für Brandenburg tun und ein Zuhause für Caroline finden wollen. Er war reich und sah gut aus. Und obwohl jeder wusste, dass er ein MDAJESADKBH war, hatten ihr viele, die ihn kannten (Minister am sächsischen Hof, die rückblickend vielleicht nicht die verlässlichsten Quellen gewesen waren), versichert, der Schlag sei gar nicht so hart gewesen. Zum Beweis hoben sie seine körperliche Vollkommenheit hervor. Und (auch das rückblickend so leicht zu durchschauen) man hatte ihn ihr bei ihren ersten Begegnungen in Umgebungen präsentiert, die auf raffinierte Weise so gestaltet waren, dass jene Aspekte seines Charakters, die dem Schlag auf dem Kopf zuzuschreiben waren, nicht zutage traten. Die Hochzeit war auf ein bestimmtes Datum in Leipzig festgesetzt worden, eine Stadt, die von beiden Hauptstädten (Berlin oder Dresden) aus leicht zu erreichen und groß genug war, um zwei kurfürstliche Höfe und eine Hochzeitsgesellschaft von Adeligen aus allen Teilen des protestantischen Europas aufzunehmen. Eleonore hatte sich im Tross der Brandenburger dorthin begeben, und sie hatten ihrem Verlobten einen Besuch abgestattet. Der Kurfürst von Sachsen hatte seine Zukünftige in Gesellschaft einer hinreißenden, teuer gekleideten jungen Frau empfangen, die er als Magdalene Sibylle von Neitschütz vorstellte.
    Eleonore hatte den Namen schon mehrfach gehört, und zwar stets im Zusammenhang mit geschmacklosem Klatsch. Die Frau war seit einigen Jahren Johann Georgs Mätresse. Es hieß sogar, sie passten

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