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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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und sie hatten ein ärmliches Wanderleben zwischen diversen unbedeutenden Höfen Nordeuropas aufgenommen. Das Gravitationszentrum, um das sie kreisten und zu dem sie häufig zurückkehrten, war der Hof des Kurfürsten und der Kurfürstin von Brandenburg-Preußen in Berlin. Und das war eine gute Wahl, denn die Kurfürstin, Sophie Charlotte, hatte ihn zu einem schönen und faszinierenden Ort gemacht, der mit Gelehrten (z.B. Leibniz), Schriftstellern, Künstlern, Musikern etc. bevölkert war. Sophie Charlotte und ihre Respekt einflößende Mutter, die Kurfürstin Sophie von Hannover, hatten Eleonore und Caroline unter ihre Fittiche genommen und waren gut zu ihnen gewesen.
    Aber Fürstlichkeiten waren eine Familie, und das hieß, dass jede Frau, die das Glück hatte, das Alter zu erreichen, in dem sie ein empfindungsfähiges Geschöpf wurde, instinktiv wusste, dass sie, indem sie aus dem Leib ihrer Mutter herausgekommen war, einem Pakt zugestimmt hatte, der niemals gebrochen oder auch nur in Frage gestellt werden würde, einem Pakt, demzufolge ihr Liebe und Loyalität in Fülle zuteil werden würden, die sie jedoch auf Heller und Pfennig mit gleicher Münze zurückzahlen musste. Und während Loyalität für eine Bauernfamilie heißen mochte, Schweinefraß zu essen, könnte es für jemanden von fürstlichem Geblüt bedeuten, ein Schwein zu heiraten, wenn es sein musste.
    Brandenburg wollte eine Allianz mit Sachsen bilden, das unmittelbar südlich davon lag, und es so aus der erdrückenden Umarmung von Österreich lösen. Die Allianz sollte durch die physische Vereinigung von Johann Georg IV., dem Kurfürsten von Sachsen, mit einer passenden Prinzessin aus dem Hause Brandenburg besiegelt werden.
Eleonore war passend, zu haben und vor Ort. Und so hatte sie 1692 in Leipzig Johann Georg geheiratet und war dadurch Kurfürstin von Sachsen geworden – an Würde somit Sophie Charlotte, Sophie und den sechs anderen Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches gleich. Die Frischverheirateten waren an den kurfürstlichen Hof in Dresden gezogen (der weitere rund sechzig Meilen flussaufwärts von dem Ort lag, an dem sich Eliza gerade befand). Eliza hatte von dort eine Flut von Caroline-Briefen und einen einzigen Eleonore-Brief bekommen. Doch nach ein paar Monaten waren die Caroline-Briefe aus diesem Pretzsch gekommen, und Eleonore-Briefe waren ganz ausgeblieben. Selbst die Karten des Vaters von Bonaventure Rossignol verzeichneten kein Pretzsch, und so hatte Eliza Leibniz fragen müssen, wo es lag. »Ein paar Stunden Fahrt von Wittenberg aus«, hatte er geantwortet und weitere Auskünfte darüber verweigert, was Eliza eigentlich hätte stutzig machen müssen.
    Caroline-Briefe waren in aller Regel voller Erzählungen von Bäumen, auf die sie geklettert war, Eichhörnchen, welche sie in den Kreis ihrer Vertrauten aufgenommen hatten, Jungen, über die sie sich geärgert, Schachpartien, die sie per Post mit Leibniz gespielt, schreckliche Bücher, die sie studiert, und wunderbare Bücher, die sie gelesen hatte; außerdem handelten sie vom Wetter, von Logarithmen und immer währenden Kabbeleien zwischen Haustieren. Sie verrieten Eliza nichts über Johann Georg IV., über Dresden oder darüber, warum sie nach Pretzsch gezogen waren oder wie es Eleonore ging. Und so hatte Eliza angenommen, was in Frankreich der Fall gewesen wäre: dass nämlich Pretzsch, so wie Marly für Versailles, irgendein auswärtiges Château des sächsischen Hofes war, das Eleonore aus welchen Gründen auch immer dem Leben in der Hauptstadt vorzog. Daher hatte Eliza, seit die Türme von Wittenberg achtern entschwunden waren, die Hügel über dem Fluss nach irgendeinem neuen Barockpalast abgesucht, einem Palast mit einem terrassierten Park, der zu einem steinernen Kai am Fluss hinabführte, wo der kurfürstliche Haushalt Aufstellung genommen hatte, um sie zu begrüßen, dazu vielleicht eine Kapelle, die Musik spielte, die Mutter am Arm ihres stattlichen Ehemanns, des Kurfürsten, und neben sich das kleine Mädchen. Ihre einzige Sorge war gewesen, dass sie, so müde wie sie war, der ganzen Prachtentfaltung nicht gewachsen sein könnte. Stattdessen dies: oben ein paar schiefe Türmchen und durchsackende Dachtraufen, die zwischen übergroßen Bäumen erkennbar waren, eine Schlammrinne, die sich
zu dem kaputten Landesteg herabwand, wo die beiden Frauen wie wahnsinnig winkten. Es lief Elizas Erwartungen dermaßen zuwider, dass es fast keinen Eindruck auf sie machte.
    Gerettet

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