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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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Hierarchien. Jetzt gerade waren sie alle der Sonne zugewandt, sodass die Dschungelmauer in grellen Farben erstrahlte. Sie sah aus, als hätte eine sagenhaft reiche Piratennation die Stadt belagert und mit riesigen Rubinen, Zitrinen, Perlen, Opalen, Korallenklumpen und Achaten bombardiert, die sich in den Fels gebohrt hatten und dort stecken geblieben waren. In dem Dschungel summte und wimmelte es von der geballten Energie von einer Million Bienen und tausend Kolibris, die durch die ständig verströmten, betörenden Düfte aus der ganzen Südsee angezogen worden waren. Im Vergleich dazu wirkten die moosbewachsenen Kuppeldächer des Palasts darüber und die stumpfen Mündungen seiner Geschütze so glanzlos wie alte Farbe.
    Dort hochzukommen, wäre, wenn sie nicht eingeladen gewesen wären,
ein kurzes Abenteuer mit tödlichem Ausgang geworden. So aber wurden Jack und Enoch über den Fluss gebracht, ohne irgendwelche Gliedmaßen an Krokodile zu verlieren, und stiegen zum Palast hinauf, ohne auf irgendwelche Falltüren oder Hagel von Giftpfeilen zu stoßen. Sie folgten einer Reihe von Treppen – von denen sich manche außen an der Kliffseite zwischen den Ranken hochwanden und andere innen in den Stein gehauen waren. Schließlich gelangten sie in einen kleinen Hof, der von Mauern mit vielen Schießscharten für Bogenschützen umgeben war: ein Schlachtplatz für Eindringlinge. Doch es tat sich eine Tür auf, und sie traten in den Palast.
    Königin Kottakkals Palast befand sich nur zu einem geringen Teil innerhalb von Hausmauern: In einem Komplex aus Gärten, Terrassen, Tempelhöfen und Plätzen, die durch ein spärliches Netz aus überdachten Galerien voneinander getrennt waren, gab es nur hier und da einzelne Wohnbereiche.
    »Normalerweise wimmelt es hier von Nayars«, bemerkte Jack, »vor allem wenn so viele Piratenschiffe im Hafen liegen. Aber heute sind sie alle unten in der Stadt und verfolgen mit Spannung das Scheingefecht.«
    Er führte Enoch zu einem kurzen Abstecher eine Galerie entlang und durch einen Garten geradewegs auf die Tür eines großen Steinhauses mit verschiedenen Balkonen und Fenstern zu, blieb jedoch abrupt stehen, als er ein Schwert mit Scheide am Türpfosten lehnen sah. Mit einem Finger an den Lippen sah er Enoch beschwörend an und sprach erst wieder, als sie sich hundert Schritte entfernt hatten.
    »Das war durchaus ein gutes Schwert«, sagte Enoch, »angesichts seiner extremen Krümmung und seiner schlanken Klinge wohl eine Art persisches Shamsir . Mir dünkt jedoch, dass Ihr ihm größeren Respekt zollt als ihm gebührt...«
    »Diese Malabari-Frauen sind mit Männern so frei wie Charles II. mit Frauen«, erklärte Jack. »Hierzulande kann ein Mann nie wissen, welche Kinder seine sind. Oder anders ausgedrückt, jeder Mann kennt seine Mutter, hat aber nicht die geringste Ahnung, wer sein Vater sein könnte. Folglich wird jeglicher Besitz in der weiblichen Linie weitergegeben.«
    »Einschließlich der Krone?«
    »Einschließlich der Krone. Eine Besonderheit dieser Regelung besteht darin, dass ein Mann, wenn er eine Dame besucht, nie weiß, welchen anderen Mann er womöglich in ihrem Bett vorfinden wird. Um unangenehme Situationen zu verhindern, lässt ein Verehrer deshalb
sein Schwert am Türpfosten stehen, bevor er eintritt – als Zeichen an alle Vorübergehenden, dass die Gunst der Dame bereits vergeben ist.«
    »Das heißt, die Königin vertreibt sich die Zeit mit einem Perser? Merkwürdig.«
    »Die Waffe kommt aus Persien. Dappa – unser Sprachkundler – hat sie in Mocha gekauft, als wir dort vor Jahren durchkamen. Von uns allen ist er der Einzige, der große Fortschritte im Erlernen der malabarischen Sprache gemacht hat.«
    »Die setzt er ja nutzbringend ein!«
    »Er hat sie bereits nutzbringend eingesetzt, indem er die Königin davon überzeugte, dass er und die anderen zu Höherem als zum Sklavendasein berufen sind.«
    Und damit öffnete Jack die Tür zu einer anderen, viel kleineren Wohnung, durch die er Enoch zu einer rückwärtig gelegenen, zum Hafen hinausgehenden Terrasse führte. Tische und Stühle in europäischem Stil waren hier herausgebracht worden. Zwei Männer arbeiteten über einem Durcheinander von Palmblättern, die mit Geschriebenem, Zahlen, Landkarten und Diagrammen bedeckt waren: Monsieur Arlanc und Moseh de la Cruz.
    Jacks Auftauchen überraschte sie kaum. Enoch Roots Anwesenheit erforderte dagegen eine kurze Erklärung – doch als Jack andeutete, der Fremde habe

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