Confusion
seine ganze Kraft darauf, an geographischer Breite zu gewinnen, und schien nicht zu wissen oder zu ignorieren, dass er noch fünftausend Seemeilen in östlicher Richtung zurückzulegen hatte; oder dass jeder Grad, den er nach Norden fuhr, ein Grad war, den er später würde nach Süden fahren müssen (da Manila und Acapulco fast auf derselben Breite lagen).
Ein paar Tage verbrachten sie in einer Flaute bei zweiunddreißig Grad, fuhren dann genau nach Norden zum sechsunddreißigsten Breitengrad und gerieten dort in ein Unwetter. Anfangs kam es aus östlicher Richtung, was bei van Hoek die große Befürchtung auslöste, sie könnten vor der Küste von Japan auf Grund laufen (sie befanden sich auf derselben Breite wie die Stadt Edo, von der Gabriel Goto behauptet hatte, sie sei die größte der Welt, und so würde ihre Havarie nicht unbemerkt bleiben). Doch dann drehte der Wind auf Nordwest und sie waren gezwungen, ein Sturmsegel zu hissen und zu lenzen. Das Unwetter war jedoch nicht annähernd so bedrohlich wie die Wellen, die sich wie Berge auftürmten.
Manchmal geschah es, dass ein Wind, wenn er heftig umsprang oder ein Schiff miserabel gesteuert wurde oder beides, über den Bug
einfiel und direkt von vorne in die Segel eines Schiffes blies, dabei das Segeltuch rückwärts an das Takelwerk drückte und oft Matrosen von ihrem luftigen Sitz herunterholte. Dann wurde das Schiff mit einem Schlag manövrierunfähig. Es machte keine Fahrt mehr, wodurch das Ruder ziemlich überflüssig wurde, und trieb und trudelte wie ein betäubter Fisch, bis es wieder unter Kontrolle gebracht war. Das nannte man back stehen, und es konnte Menschen ebenso passieren wie Schiffen. Jack hatte van Hoek nie in einem solchen Zustand gesehen, bis der Holländer einmal von unter Deck auftauchte und eine dieser Wellen auf sie zurollen sah. Allein deren Schaumkrone war groß genug, um die Minerva zu verschlingen.
Einen solchen Seegang überstand man nur, wenn man es schaffte, das Ruder und ein paar Fetzen Tuch so zu handhaben, dass die Wellen das Schiff nie an der Breitseite erwischten. Das war das Einzige, woran die Männer auf der Minerva für die nächsten achtundvierzig Stunden dachten. Manchmal balancierten sie auf dem Gipfel eines Wellenberges und genossen die Aussicht; Sekunden später stürzten sie in ein Wellental, in dem scheinbar senkrechte Wassermauern ihnen vorn und achteraus die Sicht nahmen.
Nachdem Jack ungefähr dreißig Stunden am Stück wach gewesen war, begann er Dinge zu sehen, die gar nicht da waren. Im Großen und Ganzen war das besser als die Dinge zu sehen, die da waren . Die Angst, die ihn am meisten quälte, war jedoch – trotz all der tatsächlich vorhandenen Gefahren um sie herum – die, dass sie mit der Manila-Galeone zusammenstießen. Zu Beginn des Sturms hatte er aus dem Augenwinkel heraus eine riesige Welle auf sie zukommen sehen und sich irgendwie vorgestellt, das wäre die Galeone, die auf einem Wellenkamm ritt; den dunklen, hoch aufragenden Teil der Welle hatte er für ihren Rumpf aus philippinischem Mahagoni gehalten und die Schaumkrone für ihre Segel. Selbstverständlich hätte sie bei einem solchen Sturm überhaupt kein Tuch oben, aber in seinem flüchtigen Traum war sie ein Geisterschiff, das bereits tot war und unter voller Besegelung vor dem Wind durch den Sturm fuhr. In Wirklichkeit war es natürlich nichts anderes als eine weitere verdammte Riesenwelle, und so vergaß er diese Erscheinung im nächsten Augenblick.
Jede Welle, die auf sie zurollte, war eine neue Herausforderung an ihre Existenz, nicht weniger furchtbar als alle Hindernisse, die der Duc d’Arcachon oder Königin Kottakkal ihnen in den Weg geschleudert hatten, und musste mit neuer Energie und Findigkeit bewältigt
und überlebt werden. Aber dann kam auch schon die nächste. Und in der letzten Phase des Sturms, als Jack und alle anderen auf dem Schiff schon völlig den Verstand verloren hatten und nur überlebten, weil sie es gewohnt waren zu überleben, kam die Vorstellung von der Geister-Galeone zurück und quälte ihn viele Stunden lang. In jeder Welle, die auf sie zurollte, sah er die Unterseite des Galeonenrumpfs, den mit Bernakelmuscheln bewachsenen Kiel, wie die Schneide einer Axt auf sie zukommen.
Als er erwachte, lag er auf Deck, in derselben Position, in der er Stunden zuvor, als der Sturm sich legte, zusammengebrochen war. In seinen Augen war helles Licht, aber er zitterte, weil es fürchterlich kalt
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