Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
Vom Netzwerk:
war.
    »Siebenunddreißig Grad... zwölf Minuten«, krächzte van Hoek, der ganz in der Nähe mit einem Jakobsstab arbeitete, »vorausgesetzt... der Tag stimmt.« Er hielt häufig inne, um laute, gequälte Seufzer von sich zu geben, so als sei die Anstrengung, Wörter hervorzupressen, fast zu viel für ihn.
    Jack – der auf dem Bauch gelegen hatte – rollte sich auf den Rücken. Seine Arme waren die ganze Zeit, während er geschlafen hatte, unter ihm zusammengepresst gewesen und jetzt vollkommen taub und tot, wie durchnässte Lumpen, die von seinen Schultern baumelten. »Und was meint Ihr, welchen Tag wir haben?«
    »Falls dieser Sturm nur zwei Tage gedauert hat, schäme ich mich dafür, dass ich mich so billig verkaufe. Aus einem Zweitagessturm sollte ein Schiffskapitän nicht halbtot hervorgehen.«
    »Ihr seid halbtot? Ich bin mindestens dreivierteltot.«
    »Ein weiterer Beweis, dass es mehr als zwei Tage waren. Auf der anderen Seite hätten wir vier solche Tage nicht überlebt.«
    »Ich bin kein disputierwütiger Jesuit. Wenn Ihr sagt, es waren drei Tage, bin ich einverstanden.«
    »Einigen wir uns also darauf, dass heute der erste Oktober ist.«
    »Irgendein Zeichen der Galeone?«
    Van Hoek schielte nach oben. »Niemand hat die Kraft, hochzusteigen und Ausschau zu halten. Ich glaube nicht, dass sie überlebt hat. So groß, und so überladen... Jetzt verstehe ich, warum sie jedes Jahr eine neue bauen. Selbst wenn sie den Sturm überstanden hätte, wäre sie am Ende.«
    »Was machen wir in diesem Fall?«
    »Nach Norden«, antwortete van Hoek. »Es heißt, wenn man zu früh
Richtung Osten abdrehe, überquere man den größten Teil des Pazifiks, um dann, Amerika fast vor Augen, in eine Flaute zu geraten und jämmerlich zu verhungern.«
    Diese Unterhaltung fand im Morgengrauen statt. Es wurde Mittag, bis auf der Minerva die Marsstenge wieder aufgerichtet werden konnte, und Nachmittag, bis sie mit Kurs Nord-Nordost unterwegs war. Alle Mann waren damit beschäftigt, das Schiff wieder instand zu setzen, und wer sich mit Zimmer- und Seilerarbeiten nicht auskannte, wurde hinunter in die Bilge geschickt, um das Quecksilber aufzufangen, das dort unten aus zerbrochenen Fläschchen ausgelaufen war.
    Zwei Tage später streiften sie den vierzigsten Breitengrad, was sie auf eine Breite mit dem Norden Japans brachte. Van Hoek erklärte sich schließlich bereit, nach Amerika zu segeln. Er hatte vor, sich eng an vierzig Grad nördliche Breite zu halten, was sie (gewissen Überlieferungen zufolge, die er einem betrunkenen Schiffskapitän in Manila entlockt hatte) am Ende zum Kap Mendocino bringen würde. Dieser Vorsatz ging jedoch schon einen Tag später den Weg aller Vorsätze, als van Hoek feststellte, dass eine Kombination aus Winden, Strömungen und einer wandernden Kompassnadel sie fast bis auf neununddreißig Grad abgetrieben hatte. Darüber musste er lachen, und als sie sich an diesem Abend im Speiseraum versammelten, um an bretthartem getrocknetem Rindfleisch herumzusägen und Maden aus ihren Bohnen zu schnippen, erklärte er ihnen den Grund dafür: »Der Sage nach sollen die Spanier eine geheime Route über den Pazifischen Ozean gefunden haben. Es ist eine gute Sage, weil sie Holländer, Engländer und andere vorsichtige Protestanten davon abhält, die Fahrt zu wagen. Aber jetzt kenne ich die Wahrheit, und die lautet, dass sie hinüber irren , dabei beliebig mal nach Norden, mal nach Süden getrieben werden und ihr Leben und ihre Besitztümer in die Hände unzähliger Heiliger legen. Lasst uns also auf alle Heiligen trinken, die uns zuhören!«
    So irrten sie den größten Teil des Oktober umher. Es stellte sich heraus, dass der Sturm ihrem Fockmast einen Schaden zugefügt hatte, der nicht mehr zu reparieren war und ihn eher zu einem Hindernis als einem Gewinn machte, und so verloren sie einen oder zwei Knoten. Manchmal, wenn der Wind aus dem Norden herunterwehte, wurde er eisig und schob sie auf den fünfunddreißigsten Breitengrad zu, was der südlichste war, den van Hoek noch zulassen konnte. Dann mussten sie mühevoll gegen den Wind segeln. Die kalte Gischt flog den
philippinischen und malaiischen Matrosen wie Feuersteinsplitter ins Gesicht. Die Tatsache, dass van Hoek darauf bestand, weit im Norden zu bleiben, veranlasste sie zu einigem Murren. Jack glaubte nicht, dass sie jetzt meutern würden, konnte sich aber leicht Umstände vorstellen, unter denen sie es täten. Der Klimaunterschied zwischen fünfunddreißig und

Weitere Kostenlose Bücher