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Confusion

Confusion

Titel: Confusion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson , Nikolaus Stingl
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vergoldete Kutsche und diverse Gepäckwagen, die man in nahegelegenen Boxen abgestellt hatte.
    Étienne d’Arcachon beschirmte sich mit einer Hand die Augen: »Nicht vor dem Licht, das mir nichts ausmacht, sondern vor Eurer Schönheit, die fast zu groß ist, als dass ein Sterblicher sie beschauen könnte.«
    »Danke, Monsieur«, sagte Eliza und beschirmte sich ihrerseits die Augen, die sie verdrehte.
    »Wo, bitteschön, ist der Waisenknabe, den Ihr, wie manche sagen, den Klauen der Ketzer entrissen habt?«
    »Er ist in La Dunette«, sagte Eliza, »und führt ein Bewerbungsgespräch mit einer potenziellen Amme.«
     
    Der Federkiel schnörkelte und fintierte langsam aber unaufhaltsam, gleichsam immer drei Schritte vor und zwei zurück, über die Seite und kam schließlich in einem winzigen Fleck seiner eigenen Tinte zum Stehen. Dann hob Louis Phélypéaux, erster Comte de Pontchartrain, das Schreibgerät, hielt es einen Moment in der Schwebe, wie um seine Kräfte zu sammeln, und ließ es dann rückwärts den Satz entlangsausen: trippelte über i’s, hieb durch t’s und x’, stolperte fast über einen Umlaut, gewann an Tempo und Selbstvertrauen, während er sich durch einen Slalomkurs von accents aigus und accents grâves schlängelte, pirouettierte über Cedilles und schnitt scharf abknickende circonflexes . Es war, als sähe man dem größten Fechtmeister der Welt dabei zu, wie er mit einer einzigen ununterbrochenen Serie von Manövern zwanzig Gegner abfertigte. Er hob ganz behutsam die Hand, damit seine Spitzenmanschette nicht in der Tinte schleifte; die Manschette fing eine Handvoll Luft ein und bauschte sich kurz, dann sank
sie wieder auf seine Hand hinab und bedeckte alles bis auf die Fingerspitzen, die die Feder hielten und denen sie so Gelegenheit bot, sich aufzuwärmen. Ein doppeltes Dampfwölkchen entströmte Pontchartrains höhlenartigen Nasenlöchern, während er das Dokument überlas. Eliza bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte, und sie ließ ihrerseits ein Dampfwölkchen entweichen. Während sie ausatmete, umschloss ihr Kleid sie plötzlich fester um die Taille, während es seinen Griff um ihren Oberkörper lockerte. Etwas Milch sickerte aus ihren Brüsten, doch damit hatte sie gerechnet und sich mit Baumwollbinden umwickelt. Für eine Jungfrau, die lediglich ein Waisenkind adoptiert hatte, war es höchst ungewöhnlich, Milch zu bilden. Sie roch wie eine Molkerei. Aber im Raum war es so kalt, dass niemand etwas anderes als Staub und Eis riechen konnte.
    »Wenn Ihr Euch vergewissern wollt, Mademoiselle, dass ich mich beim Niederschreiben der Hauptsumme nicht geirrt habe.« Er zog die linke Hand aus ihrem warmen Hort zwischen seinen Oberschenkeln und drehte das Blatt um einhundertachtzig Grad. Darum bemüht, keine ausgedehnte Front von Milchduft vor sich herzutreiben, trat Eliza vor, legte die Hände auf die Marmortischplatte und zog sie gleich wieder zurück, da der Stein die Wärme aus ihrem Fleisch riss. Ihre Arme waren müde. Als sie durch die Palastflure hierhergekommen war, hatte sie ihre Röcke – schwere Wintersachen – schürzen müssen, damit sie nicht durch die Menschenkothaufen schleiften, mit denen die Marmorböden übersät waren. Die meisten davon waren steifgefroren, einige aber waren es nicht, und von diesen konnte sie in den düsteren Galerien erst dann den Dampf aufsteigen sehen, wenn es zu spät war.
    Diese Flure und die aufgeteilten, unterteilten und abermals unterteilten Zimmerfluchten, die sich um sie drängten, waren Versailles, wie es war. Der Flügel, in dem Monsieur le Comte de Pontchartrain, contrôleur-général, seine Amtsräume hatte, war Versailles, wie es sein sollte. Das heißt, die Zimmer waren geräumig, die Fenster zahlreich und groß, die Böden frei von Scheiße. Pontchartrain saß an einem Tisch, mit dem Rücken zu einem Bogenfenster, das auf den Park ging. Seine knochigen, lediglich von Seidenstrümpfen geschützten Unterschenkel waren gekreuzt wie zwei Stöcke, die jemand aneinanderreibt. Die Sonne stand in seinem Rücken. Seine Perücke warf einen alpenartigen Schatten auf den Tisch und das Dokument. Der Geldbetrag, den Jean Barts Korsaren Eliza abgenommen hatten und den sie dem
Schatzamt lieh, stand nicht in Ziffern, sondern in Worten auf der Seite; und dieser Betrag war so groß, dass er, vollständig ausgeschrieben, drei Zeilen des Dokuments in Anspruch nahm und den Grafen gezwungen hatte, die Feder zweimal einzutauchen. Er glich einem Bibelvers;

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