Conte-Krimi - 13 - Hetzjagd am Grünen See
dachte eine Weile nach, schüttelte dann den Kopf und antwortete: »Oliver ist ein Hitzkopf. Aber ich traue ihm diese Kaltblütigkeit nicht zu.«
»Als er einen fünfzehn Meter hohen und ein Meter dicken Baumstamm auf dich niedersausen lassen wollte, was war das?«, fragte Schnur. »Barmherzigkeit?«
Mit einem Mal waren die Nebelschwaden verschwunden â von einer Sekunde auf die andere. Die beiden Männer erhoben sich gleichzeitig und schauten in die Schlucht.
Klar und deutlich erkannten sie die Kanzel mit ihren vier langen Pfosten. Sie sah intakt aus, als hätte sie den tiefen Sturz unbeschadet überstanden. Von Micky keine Spur.
Der Lichtmastkraftwagen des THW fuhr schwerfällig über das unwegsame Gelände.
Zur BegrüÃung reichte der Leiter Jürgen Schnur die Hand und sagte: »Das ist hoffentlich nicht wieder ein tödlicher Unfall.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil wir genau an dieser Stelle vor Jahren den ehemaligen Revierförster geborgen hatten. Mit demselben Fahrzeug.«
»Ich weià nicht, was uns erwartet. Wenn wir Glück haben, liegt dort unten nur der Hochsitz.« Schnur konnte nicht aussprechen, was er wirklich ahnte.
Sie sicherten das Fahrzeug am Rand der Schlucht, bevor es die Masten teleskopartig in die Tiefe hinabgleiten lieÃ. Wie in Zeitlupe arbeiteten sich die stählernen Greifer durch das dichte Buschwerk.
Es dauerte lange, bis es den Einsatzleuten der THW gelang, die Kanzel nach oben zu befördern. Steiner zitterte vor Angst. Am liebsten wäre er davon gelaufen. Er wollte nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen.
Es war soweit. Die Kanzel wurde vor ihm abgelegt. Er musste hineinÂsehen. Das Dach war eingedrückt, deshalb konnte er nur Holz erkennen. Sie drehten den Sitz um.
Vor ihnen lag Micky.
Die schmalen Augen waren geöffnet, ein Blutrinnsal lief von seiner Stirn über sein rundes Gesicht. Das Lachen war erloschen. Stattdessen starrten die Augen leer auf Steiner. Sein Mund stand offen, als wollte er ihm etwas sagen. Mit beiden Händen hielt er seinen Rucksack umklammert, als könne er sein Leben retten.
Kapitel 31
Die Mitarbeiter des THW hatten sich bereits verabschiedet und waren mit dem schweren Lichtmastkraftwagen aufgebrochen. Der Anblick des Toten hatte ihnen die Freude über ihre erfolgreiche Leistung verdorben.
Zurück blieben Jürgen Schnur und Harald Steiner.
»Du hast hoffentlich nicht vergessen, wie man sich an einem Tatort verhält«, insistierte Schnur, als er sah, wie Steiner sich dem toten Jungen näherte.
»Ich will wissen, was er im Rucksack hat«, entgegnete der ehemalige Kollege mit brüchiger Stimme.
»Das wird das Team der Spurensicherung übernehmen. Solange musst du warten.«
Steiner nickte, lieà sich auf dem nassen, kalten Boden nieder und hielt sich die Augen zu. Moritz setzte sich vor sein Herrchen und leckte ihm über die Hände.
»Es tut mir leid«, sprach Schnur leise. »Der Junge hat dir viel bedeutet, nicht wahr?«
Steiner fühlte sich unfähig zu antworten.
Jürgen Schnur ging von Nervosität angetrieben vor ihm hin und her. Das Warten auf die Kollegen dauerte endlos lange. Aber das sollte ihn nicht wundern, denn sie mussten den weiten Weg aus Saarbrücken zurücklegen und anschlieÃend über Waldwege fahren, was nicht zu ihren täglichen Gewohnheiten gehörte.
Endlich trafen die ersten Autos ein. Anke Deister und Erik Tenes fuhren in ihrem grünen Subaru allen voran. Das allradangetriebene Auto bewies in dem unwegsamen Gelände seine Fahrtüchtigkeit. In groÃem Abstand folgten die Kollegen in ihren Dienstfahrzeugen, die sich mühsam vorwärts bewegten und herausstehenden Wurzeln oder tiefen Furchen in dem nassen Boden ausweichen mussten.
Im Nu war alles voller Menschen.
Als Steiner Esther Weis sah, erhob er sich, ging auf sie zu, nahm sie ohne ein Wort in den Arm, drückte sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihren blonden Locken.
Alle sahen diese Szene, niemand sagte etwas.
Esther verharrte still in seiner Umarmung. Unsicher blickte sie weg.
»Machen wir uns an die Arbeit«, unterbrach Schnur die Unentschlossenheit, womit er alle daran erinnerte, warum sie an diesem ungewöhnlichen Ort waren.
Der Polizeifotograf begann, die Fotos zu schieÃen. Der Gerichtsmediziner untersuchte den toten Jungen. Theo Barthels entnahm ihm den Rucksack. Als er ihn öffnete,
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