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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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fühlte sich ausgesprochen wohl. Er hatte bisher nicht oft über Cardoza triumphieren können; nicht weil Cardoza der Bessere war, sondern weil er so wenig Konfliktstoff bot.
    Im Fahrstuhl von Hildys Wohnhaus wippte Ivers freudig auf den Zehenspitzen und genoß die zunehmende Blässe auf Cardozas Gesicht. Oben ließ er den Schlüssel zur Wohnung 6-D ins Schloß gleiten und öffnete schwungvoll die Tür.
    Es war eine Wohnung, wie sie in Vermietungsbroschüren mit zweieinhalb Zimmern angezeigt wird: der halbe Raum, eine winzige Küche in einer Art Wandschrank, war eine dichterische Übertreibung des Maklers. Das Vorderzimmer, quadratisch, eierschalfarben angestrichen, war wie ein Geishahaus eingerichtet. Das Schlafzimmer, durch die halb geöffnete Tür sichtbar, war die Großmädchenversion eines Jungmädchenzimmers.
    »Na bitte!« sagte Ivers großartig. »Mehr Hinweise, als man sich wünschen kann.«
    Äußerlich lächelte er, doch innerlich schüttelte er sich vor Lachen. Er sah zu, wie sich Cardoza zögernd umblickte, wie die grauen Augen die Bücherregale und Schallplattenhüllen erfaßten, die japanischen Drucke an der Wand, die dünnbeinigen Lampen auf den Tischen. Die Situation war wirklich lächerlich, denn Ivers wußte etwas, von dem Cardoza nichts ahnte. Ivers hatte das Zimmer selbst eingerichtet – entzückt hatte er die hellen Möbel ausgesucht, die pastellfarbenen Seidenkissen, die auf dem spiegelglatten Holzboden verstreut lagen, den durchscheinenden Schirm mit Schmetterlingen auf Ölpapier. Da Hildy nur Filmstarmagazine las, hatte er eine Sammlung katholischer Titel herangeschafft, die dem Bücherbord einen würdigen und selbstbewußten Anstrich gaben. Hildy nahm die Bücher nie in die Hand, die nur zweimal in der Woche von der Putzfrau sorgfältig abgestaubt wurden. Mit dem Schlafzimmer, das in Rosa gehalten war, standen die Dinge anders. Beim Einzug hatte Hildy die Einrichtung von der Vormieterin, einer schlanken Ballettänzerin, für fünfundsiebzig Dollar übernommen. Hildy mochte die Sachen nicht, hatte sich aber von Ivers überzeugen lassen, daß ein Shirley-Temple-Boudoir für ihr Liebesleben von besonderem Reiz sein konnte.
    Alles in allem befand sich in der Wohnung nichts, das die Wahrheit über Hildy verraten konnte, über die lebensfrohe, langbeinige Blondine, der Hal Ivers zärtlich verbunden war. Die Verwirrung, die Cardoza bevorstand, freute ihn dermaßen, daß er dem anderen freundlich-grob auf die Schulter klopfte und aufgekratzt sagte:
    »Viel Glück Kumpel. Gute Nacht.«
    »Danke«, sagte Cardoza unsicher und näherte sich der Büchersammlung. »Plutarchs Leben«, sagte er und nahm ein Buch heraus.
    »Gute Nacht«, wiederholte Hal Ivers grinsend und schloß die Tür hinter sich.
    Eine Schlange glitt in Ivers’ Wohnzimmer, und er fuhr auf seinem Sofabett hoch und wollte um Hilfe rufen. Aber kein Reptil störte die Strahlen der Morgensonne, die eine gelbe Bahn von seiner Bettdecke zur Wohnungstür zogen. Nur die Ecke eines unter der Tür hindurchgeschobenen weißen Umschlages; das leise Zischen hatte die Ankunft des Briefes angekündigt. Ivers warf die Decke zurück, öffnete die Tür und sah niemanden. Er nahm den Umschlag hoch, las seinen Namen und erkannte, daß es sich um eine Nachricht von Cardoza handelte.
    Er blickte auf die Uhr. Es war Viertel nach zehn, zwei Stunden vor seiner üblichen Frühstückszeit am Sonntag. Er kehrte zum Bett zurück, setzte sich und riß den Umschlag auf.
    Er enthielt ein mit Schreibmaschine beschriebenes Blatt:
    Oh, welch Paradox ist Hildy!
    Nach dem ersten Eindruck würde der Amateurdetektiv auf eine Persönlichkeit schließen, die nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Aber die Sherlock-Methode gibt sich nicht mit äußerem Schein zufrieden: sie geht weitaus tiefer. Denn trotz der Eleganz des Mobiliars, trotz der Hochgestochenheit der Bibliothek, trotz der vornehmen Atmosphäre der Wohnung ist Deine Hildy ein temperamentvolles Wesen.
    Deine Hildy, mein Freund, ist ein Geschöpf des Dschungels, eine Höhlenfrau, die nach Umarmungen lüstet. Wilde Tarzanlaute stößt sie aus, ihre langen Gliedmaßen suchen den Partner wie eine Python auf Jagd. Hüte dich vor falschen Eindrücken, mein Freund. In ihrer unschuldigen Höhle lauert Hildy, verrucht, unersättlich, fähig, ein unachtsames Männchen zu verschlingen wie eine Schwarze Witwe.
    Mit einem zornigen Aufschrei warf Ivers den Brief zu Boden. Dann nahm er ihn auf und las den Text ein zweitesmal und

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