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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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eigenen Sünden, daß wir anderen Sündern die vollkommene Gerechtigkeit zumessen können.
    Wenn Sie nie gesündigt haben, nicht einmal außerhalb des gesetzlichen Wirkungsbereichs, dann sind meine Worte nicht für Sie bestimmt. Wenn Sie absolut schuldlos sind, wenn Sie nie einen Fehler begangen haben, nie jemanden benachteiligt oder schwer gekränkt oder ihm leiblichen Schaden zugefügt haben, dann haben Sie das Recht, die Art und Weise zu bestimmen, wie dieser Junge bestraft werden soll.«
    Seine Stimme wurde lauter und bekam einen durchdringenden Klang.
    »Wenn Sie bereit sind, über Ted Crawford Bilanz zu ziehen – zu sagen, er habe mit der Tat eines Augenblicks, mit einer Handbewegung, einem Lidschlag, einer verwirrten Sekunde seines Lebens das Recht zum Weiterleben verwirkt, das Recht zu atmen, zu bereuen, sich zu ändern, seine früheren und gegenwärtigen Sünden wiedergutzumachen –, dann steht Ihnen das zu.
    Aber vergewissern Sie sich Ihres Tuns!
    Haben Sie niemals Ihrer Frau, Ihrem Manne, Ihrem Kind im Zorn ein kränkendes Wort gesagt und es dann bereut? Das war ja kein Problem, nicht wahr? Ein Kuß, ein stockender, verzeihungsheischender Satz, und alles war wieder gut. Haben Sie jemals einen Stein geworfen, einen Teller zerbrochen, einen Fluch hinausgebrüllt? Jemandem eine Ohrfeige versetzt? Ein Kind geschlagen? Eine Lüge ausgesprochen? Ein Versprechen gebrochen? Was war Ihre Strafe dafür? Reue, Selbstqual, Selbstvorwürfe? Doch wurde nicht Bilanz gezogen über Ihre Fehler, der Schlüssel hat sich nicht im Schloß herumgedreht und Ihnen die Chance verwehrt zu sagen: ›Ich bereue die Tat, es tut mir leid, ich will ein besserer Mensch werden.‹ Dieser Junge aber hat mehr getan, als einen Teller kaputtzuwerfen oder ein Versprechen nicht zu halten. Er hat einen Menschen getötet. In einer einzigen Sekunde, blind von sinnlosem Zorn über sein Leben in einer Welt, die er nicht verstand, nahm er einem anderen Menschen das Leben. Mit Vorbedacht? Nicht mehr als das zornige Wort, der zertrümmerte Teller, der geworfene Stein oder der Schlag ins Gesicht des Mitmenschen! Mit Vorbedacht? Mit Überlegung? Jemanden umzubringen vor Zeugen, vor Gott, unter den Augen eines rachedürstenden Gesetzes?«
    Er hatte zu brüllen begonnen; er kämpfte um Selbstbeherrschung und senkte die Stimme wieder. Er stützte sich schwer auf das Geländer der Geschworenenbank.
    »Sie können jetzt Bilanz ziehen über Ted Crawford. Das Gesetz gibt Ihnen dieses Recht. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt. Vielleicht ist er alt genug, einer Gerechtigkeit ins Gesicht zu sehen, die göttlicher ist als die unsere.
    Aber bedenken Sie eins. Vor jenem göttlichen Gericht muß Ted Crawford seine Aussage machen: ›Meine letzte Tat auf der Erde war es, einen Menschen umzubringen, der mein Freund war. Man ließ mir nicht die Zeit, mit meinem Leben mehr anzufangen.‹«
    Miles löste die Finger vom Geländer und wandte sich langsam um. Im Bewußtsein der ehrfürchtigen Stille im Gerichtssaal kehrte er zum Verteidigertisch zurück – eine Stille, deren Bedeutung er nicht zu ergründen vermochte.
    Im nächsten Augenblick gab es Beifall. Der Lärm brandete in den Zuschauerreihen auf, und Miles versuchte seine Freude zu verbergen, versuchte neben Rutherford Platz zu nehmen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Der Richter zögerte einen Augenblick lang, griff dann nach dem Hammer und rief das Publikum zur Ordnung. Der Beifall erstarb, doch das Echo hielt sich noch eine Weile.
    Hanley war aufgesprungen. Mit seiner Ruhe war es vorbei. Der Vortrag hatte ihn sichtlich aufgewühlt; allerdings war er nicht ergriffen, sondern beherrschte nur mühsam seinen Zorn.
    »Euer Ehren …«
    »Ja, Mr. Hanley?«
    »Euer Ehren. Im Hinblick auf die positive Aufnahme von Mr. Crawfords Rede durch das … äh … Publikum möchte ich das Plädoyer der Anklage bis morgen früh zurückstellen.«
    »Einverstanden, Mr. Hanley. Das Gericht vertagt sich bis morgen vormittag zehn Uhr.«
    Miles hörte die letzten Worte gar nicht; er beobachtete Rutherford, während Rutherford die Geschworenen im Auge behielt. Als sie den Gerichtssaal verließen, drückte der Anwalt Miles’ Arm und flüsterte etwas, das Miles nicht verstand. Er wiederholte es im Korridor draußen.
    »Ich habe nicht daran geglaubt«, sagte er. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber ich glaube, Sie haben es geschafft, Mr. Crawford!«
    In diesem Augenblick ging Hanley vorüber; er trug die Tasche verkrampft

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