Cop
Rücken tut weh, und sein Kopf ist voller Erinnerungen, von denen er schon lange nichts mehr wissen will. Jeden Morgen wacht er auf, duscht sich, zieht sich an. Er rasiert sich nur jeden zweiten Tag, denn er ist blond und kann es sich daher leisten, in dieser Hinsicht ein bisschen faul zu sein. Danach isst er zwei hart gekochte Eier (manchmal auch ein Toast) und trinkt einen Becher Kaffee. Dann auf zur Arbeit, acht Stunden lang herumsitzen, Solitär spielen und Anrufe entgegennehmen. Wenn irgendwo Verstärkung benötigt wird und es nicht allzu weit entfernt ist, fährt er auch mal selbst zu einem Einsatz (daher das Blaulicht im Handschuhfach seines Wagens). Auf dem Papier ist er ein echter Polizist, er geht jeden Tag in Uniform aus dem Haus – aber nur, weil der Stadtrat keinen Zivilisten für die Leitstelle anheuern wollte. Die meiste Zeit hockt er im Büro und telefoniert. Manchmal sind die Anrufe nicht ohne: Ehemänner, die beim Pferdefüttern zusammenbrechen oder versuchen, ihre Pferde zu beschlagen, und dabei einen Huftritt abbekommen; Söhne, die sich versehentlich einen Finger absägen; Hausfrauen, die sich einen Eimer ätzender Lauge über das Kleid kippen. Und wenn ein solcher Anruf reinkommt, lässt der nächste nie lange auf sich warten. Fast immer häufen sich die schlechten Nachrichten, als hätte ein böser Wind das Unglück in die Stadt getragen. Nach solchen Tagen fühlt Ian sich völlig leer, ausgehöhlt wie ein Kürbis zu Halloween. Am Ende der Schicht fährt er heim zu den Skyline Apartments, stellt den Wagen ab, schließt sich in seiner Wohnung ein und schaut fern. Sitcoms. Dabei leert er exakt sechs Flaschen Guinness, dazu freitags noch ein Glas Scotch (meistens Laphroaig), bis er nach ein paar Stunden auf der Couch einschläft.
Wiederum fünf oder sechs Stunden später wacht er auf, und das Spiel beginnt von Neuem.
Doch heute ist alles anders. Normalerweise macht er um vier Uhr Schluss; heute verlässt er seinen Platz schon um Viertel nach drei.
Er steht auf und geht rüber in den Empfangsraum.
Wie erwartet döst Chief Davis auf seinem zurückgekippten Stuhl, mit den Stiefeln auf dem Tisch, den Stetson über die Augen gezogen. Die Leute halten ihn für faul, aber immerhin ist er vierundzwanzig Stunden täglich im Dienst und muss sich die Nacht oft genug mit besoffenen Idioten und gewalttätigen Ehemännern um die Ohren schlagen. Ian kann es ihm daher nicht verübeln, dass er schläft, wann immer sich die Gelegenheit bietet.
»Chief«, sagt er.
Davis stöhnt und wischt sich einen Speicheltropfen aus dem Mundwinkel.
»Chief.«
Jetzt richtet er sich auf, schiebt den Stetson nach hinten, reibt sich die Augen und zieht die Brille aus der Hemdtasche. Nachdem er sich noch einmal mit den Handflächen über das Gesicht gefahren ist und kurz geblinzelt hat, mustert er Ian.
»Ian.«
»Da ist gerade ein Anruf reingekommen.«
»Was für ein Anruf?«
»Maggie hat angerufen.«
»Maggie?« Ein Blinzeln. Noch ein Blinzeln. »Deine Tochter? «
Ian nickt.
»Bist du dir sicher?«
Ian nickt noch einmal. »Sie hat von einem Münztelefon vorm Main Street Shopping Center angerufen. Sie lebt. Diego ist schon auf dem Weg, die Jungs vom County auch, aber ich will selber hin. Kannst du mich kurz vertreten?«
»Nein. Du weißt doch, ich muss mich um Sizemore kümmern. Soll sich Thompson ans Telefon setzen.«
Steve Thompson ist der zweite reguläre Officer der Tagschicht bei der Polizei von Bulls Mouth. Soweit Ian es beurteilen kann, ist er kein schlechter Polizist – zumindest solange etwas los ist. Andernfalls verdrückt er sich gerne mal. Ab vier Uhr nachmittags sind nur noch zwei Mann im Dienst, eine der drei Teilzeitkräfte am Telefon und ein Officer im Streifenwagen. Und im Notfall natürlich Chief Davis. Von vier Uhr bis Mitternacht ist Armando Gonzales im Einsatz; er hat die Schicht vor Kurzem von Diego Peña übernommen, der sich rasch hochgearbeitet hat: vom Telefondienst in Teilzeit zur Vollzeitkraft in der Tagesschicht. Von Mitternacht bis acht Uhr hält Ray Watkins die Stellung.
Ian nickt ein drittes Mal. »Auch gut. Wo ist er?«
»Hinten im Hof. Wäscht meinen Pick-up. Sag ihm, er soll sich ans Telefon setzen, und dann nichts wie weg hier.«
Ian nickt ein letztes Mal.
»Was hast du an?«
»Was?« Maggie blickt sich um – und sieht, wie der grüne Ford Ranger auf sie zurast. Hinter der Windschutzscheibe erkennt sie Henrys riesenhaften Schatten. Er beugt sich über das Lenkrad wie ein
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