Cop
abzuwälzen. Sagst, ich hätte meine Entscheidung getroffen. Hab ich mir etwa ausgesucht, dass du mir hier mit einem Beil in der Hand auflauerst? Dass du mich an einen Stuhl fesselst? Ich hab mir nicht mal meinen Bruder ausgesucht, aber du … Steh zu dem, was du bist. Gib zu, dass du …« Er verstummt, atmet tief durch. Für einen Moment sinkt sein Kinn auf die Brust, schnellt aber sofort wieder hoch. »Dass du kein Stück besser bist als er. Ihr habt beide kein Problem damit, andere Menschen … andere Menschen … Scheiß auf … Ich hasse euch. Alle beide.«
Wieder sinkt sein Kinn auf die Brust, doch in derselben Bewegung reißt er den Kopf wieder hoch und blickt sich um, als wüsste er nicht, wo er ist. Erst nach ein paar Sekunden stellen seine Augen scharf – auf Ian. Er starrt ihn an.
»Ich bin nicht wie er«, sagt Ian.
»Du bist genau wie er.«
»Meine Tochter ist unschuldig, all die kleinen Mädchen waren unschuldig. Du bist nicht unschuldig. Das redest du dir vielleicht ein, du hast ja nichts verbrochen, nein, aber du und ich, wir wissen, dass das eine Lüge ist. Dein Bruder ist ein Monster. Das wissen wir beide, du hast es wahrscheinlich schon immer gewusst. Aber du hast ihn nicht aufgehalten. Du hättest ihn aufhalten können, aber du hast es nicht getan. Dadurch hast du dich zu seinem Komplizen gemacht. Du hast gewusst, dass er mir meine Tochter, mein Leben gestohlen hat. Du hast es gewusst und nichts getan. Jahrelang hast du mir jeden Tag in die Augen geschaut und nichts, gar nichts gesagt.«
»Deswegen hast du nicht automatisch recht.«
»Das ist mir egal. Ich will meine Tochter zurück. Das ist alles.«
Donalds Wimpern flattern, seine Augäpfel rollen in den Höhlen, doch er bleibt bei Bewusstsein. Vorerst. »Ich hab ihr Bücher gebracht. Ich hab ihr sogar Unterricht gegeben, Geschichte, Mathe und so weiter, so oft wie möglich. Ich hab oft nach ihr geschaut.«
»Aber das einzig Richtige hast du nicht getan.«
»Ich habe getan, was ich konnte. Ich konnte meinen Bruder nicht verraten.«
»Ich will sie zurück.«
Lange wird kein Wort gesprochen. Bis Donald flüstert: »Na gut.«
»Was?«
»Ich sag’s dir. Henry sollte … Henry hat es auch nicht verdient, ungeschoren davonzukommen … Ich sag dir, wo er hinwill, aber dafür …« Er hält inne, schließt die Augen und schluckt. »Dafür musst du mir auch was sagen.«
»Was?«
»Du wolltest mich von Anfang an umbringen, oder? Egal, was ich sage?«
Ian schweigt. Er schweigt sehr lange, teils weil er die Antwort selbst nicht kennt. Natürlich weiß er, was er sich eingeredet hat: Dass er nur bis zum Äußersten gehen wird, wenn es wirklich nötig ist. Aber er ist sich keinesfalls sicher, ob das nicht gelogen war.
»Du wolltest mich von Anfang an umbringen, oder? Egal, was ich sage?«
Ian fährt sich über die Lippen. Und nickt. »Ja.«
VIER
Lange vor Morgengrauen macht Ian sich auf den Weg. Gestern Nacht, als er mit Donald fertig war, als er bekommen hatte, was er wollte, hat er sich kurz hingelegt. Er hatte keine Wahl, er war zu erschöpft, die Schmerzen waren zu groß. Wäre er nicht freiwillig schlafen gegangen, wäre er schlicht umgekippt. Doch er hat den Wecker auf vier Uhr morgens gestellt, und noch bevor die Sonne am Horizont erscheint, nimmt er die Verfolgung auf.
Während der ersten fünf Minuten seiner Fahrt liegt Bulls Mouth links vom Interstate, eine verworrene Lichterkette mit zahlreichen defekten Gliedern. Danach ist die Stadt Vergangenheit. Die Welt schrumpft zusammen auf den grauen Asphaltstreifen, der sich vor ihm in die Nacht rollt, die Lichter der Stadt werden von einem weiten, flachen Nirgendwo verdrängt. Nur ab und zu lockern ein paar versprengte Bäume die Leere auf, um sogleich wieder von der übermächtigen Dunkelheit verschluckt zu werden. Glühwürmchen sprenkeln die Nacht, Ian fährt mittendurch. Die Insekten klatschen auf die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer hinterlassen leuchtende Spuren. Abgesehen von der Fahrbahn ist nichts zu erkennen, und das gefällt ihm ganz gut. Die Straße füllt alles aus, es gibt nichts als das, was in diesem einen Moment von den Scheinwerfern beleuchtet wird. Ein überschaubares Universum. In seinen Ohren klingt selbst das Dröhnen der Reifen wie ein angenehmes Schlaflied. Ians Mustang ist der einzige Wagen weit und breit.
Einige Stunden fährt er durch den zeitlosen Raum. Wenn jeder Augenblick dem vorigen gleicht, verliert der Lauf der Zeit an Bedeutung. In
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