Cop
als Naomi schon durch die Hintertür verschwunden war, ist ihr klar geworden, dass sie vielleicht selbst hier rauskommen könnte, wenn Naomi Hilfe holt. Dass die Hilfe vielleicht herkommen würde, um sie zu befreien. Aber als sie Henry ein Bein gestellt und geschrien hat, dass Naomi laufen und Hilfe holen soll, hat sie gar nicht daran gedacht. Da wollte sie nur, dass Henry nicht auch noch die Frau umbringt. Sie hat es nicht geschafft.
Am liebsten würde Maggie wegrennen. Doch sie will nicht enden wie Naomi.
Dabei hat sie schon immer gewusst, dass er sie womöglich umbringen wird, wenn sie versucht, aus dem Albtraumland zu entkommen. Aber bis gestern war der Tod nur eine vage Vorstellung, nichts Reales, Greifbares. Seit gestern kennt sie den Tod, und er gefällt ihr nicht. Sie will leben. Sie will nicht, dass das Licht in ihrem Inneren erlischt.
Außerdem hat Henry Angst, sie sieht es in seinen Augen. Er fürchtet sich vor der Polizei. Sollte sie jetzt Ärger machen, bringt er sie vielleicht wirklich um. Wenn man ein Tier in die Enge treibt, beißt es zu. Das weiß sie von Daddy, und warum sollte sie daran zweifeln? Es gibt nichts Gefährlicheres als ein verängstigtes Tier.
Deshalb muss sie aufpassen. Sie darf nur abhauen, wenn sie sich absolut sicher ist, dass ihre Flucht gelingt. So sicher wie möglich.
Stumm nickt sie sich zu.
Sie wird fliehen. Sie muss nur den richtigen Moment abpassen.
Da kommt Henry herübergestampft. Er wischt sich über die nasse Stirn, schnäuzt sich in die Finger, schüttelt einen Rotzfaden auf den Boden und schmiert sich den Rest in die Hose. Mit zusammengekniffenen Augen mustert er Maggie und Beatrice, die Seite an Seite auf der Erde sitzen.
»Tja«, sagt er, »dann machen wir uns mal aus dem Staub.«
Diego klopft an Ians Tür. Neben dem Messingknauf zieht sich ein burgunderroter Streifen über das weiß gestrichene Holz, auf dem Knauf selbst prangt ein blutiger Daumenabdruck. Diego betrachtet den Knauf. Aus seiner Perspektive sieht es aus, als hätte man den Daumenabdruck auf die linke Wange seines verzerrten Spiegelbildes gestempelt.
Als Ian nicht öffnet, klopft Diego noch einmal.
»Ian?«
Es tut sich immer noch nichts.
»Ian?«
Diego rüttelt am Knauf. Abgeschlossen, aber der Riegel ist nicht vorgeschoben, und die Tür sitzt nicht besonders fest im Rahmen. Er dreht den Knauf so weit wie möglich herum, reißt die Tür Richtung Scharnier und drückt mit der Schulter dagegen. Beim ersten Mal klappt es nicht, beim zweiten Mal knackt es im Türpfosten, und die Tür schwingt nach innen auf.
»Ian?«
Immer noch nichts. Keine Antwort ist auch eine Antwort.
Vorhin hat er Debbie angerufen und gefragt, wo Ian steckt. Sie wollte es ihm nicht sagen; angeblich wusste sie es nicht, aber das hat er ihr nicht geglaubt, und er glaubt es immer noch nicht. Er macht sich Sorgen. Ian ist gestern Abend aus dem Krankenhaus verschwunden, und Donald Dean ist heute Morgen nicht im Bill’s Liquor aufgetaucht. Wahrscheinlich weiß Debbie, wie diese beiden Ereignisse zusammenhängen, doch sie will nicht reden, und er wollte sie nicht weiter bedrängen. Schließlich hat sie gerade ihren Ehemann verloren (möge das Arschloch in Frieden ruhen, auch wenn er seinem Kumpel die Frau ausgespannt hat), und Maggie ist genauso ihre Tochter wie die von Ian. Ja, vielleicht sind die letzten Tage für sie noch schwerer zu verkraften als für ihn, denn sie hatte Maggie wirklich schon begraben.
Diego tritt ein, schließt die Tür hinter sich und sieht sich um.
Zu seiner Linken steht ein Hutständer mit einem unbenutzten Stetson und einer Baseballkappe der Anaheim Angels. Soweit er weiß, hat Ian die Kappe nur ein einziges Mal getragen – während der World Series 2002, als es die Angels ausnahmsweise ins Finale geschafft hatten. Normalerweise hätte er dafür Hohn und Spott geerntet, nur schert sich in der Stadt auch niemand um die San Francisco Giants. Gleich rechts geht es in die Küche: eine geflieste Arbeitsplatte, eine Edelstahlspüle, ein kleiner weißer Kühlschrank. An der Kühlschranktür hängen ein paar Fotos von Maggie, mit Magneten befestigt. Geradeaus durch den Flur gelangt er ins Wohnzimmer: eine blaue Couch, ein niedriger Tisch mit einem Schachbrett und ein paar leeren Guinness-Flaschen darauf, ein Fernseher.
Und auf der Armlehne der Couch: ein rötlicher Streifen. Blut.
»Ian?«
Stille.
Diego geht vorbei an den Bücherregalen im Flur zum Schlafzimmer. Das Bett ist gemacht, aber
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