Cop
Finger und Zehen fehlen. Merkwürdig, wie wenig menschlich eine fingerlose Hand wirkt – nichts als rote Stümpfe mit knochenweißen Kernen. Fliegen krabbeln über Donalds Gesicht und seine starren Augen. Sie krabbeln über die blutigen Stummel, dort, wo früher mal seine Zehen und Finger waren, und legen ihre Eier ins Fleisch.
Diego muss vor Übelkeit schlucken. Er weiß, wer für all das verantwortlich ist: sein Freund Ian. Ein Mann, der mit seiner Familie an einem Tisch gesessen hat. Ein Mann, der bei ihm auf der Couch übernachtet hat. Ein Mann, der mit Elias Videospiele gespielt hat. Er kann nicht fassen, wie so etwas möglich ist.
Diego geht zum Tisch und wirft einen Blick in die Schüssel. Er schluckt seinen Ekel herunter und greift nach kurzem Zögern in die braune Suppe, um einen der mit Küchenrolle umwickelten Klumpen herauszuziehen. Das Ding ist schwerer als gedacht. Er wickelt es aus dem Papier. Vor ihm liegt der kleine Finger eines erwachsenen Mannes: ein weißer Kern, umhüllt von rotem Fleisch, mit einer Schale aus verschrumpelter Haut. Sieht aus wie ein eingelegter Schweinefuß.
Schnell lässt er den Finger wieder in die braune Suppe plumpsen.
Dafür ist Ian verantwortlich. Sein Freund Ian.
Er war hier, um sich die Informationen zu beschaffen, die weder Diego noch Sheriff Sizemore aus Donald hatten herausholen können. Und er hat sich Mühe gegeben. Er hat dafür getötet. Nur eines weiß Diego nicht, eines kann er nicht aus der Szenerie vor seinen Augen ablesen: Ob er bekommen hat, was er wollte. Dass er sich Mühe gegeben hat, hat nichts zu sagen. Die Leute geben sich andauernd Mühe, ohne zu bekommen, was sie wollen. Genauso oft bekommen sie, was sie wollen, ohne sich bemüht zu haben. Das Leben ist ungerecht.
Diego wischt sich über die schweißnasse Stirn.
Seine Augen streifen den gelben Block. Sind die blutigen Fingerabdrücke nicht ein Hinweis darauf, dass der Block gestern Abend, während oder nach der Folter, die sich hier abgespielt hat, benutzt worden ist? Diego schnappt sich einen Bleistift und schraffiert das oberste Blatt. Nach und nach werden Zahlen und Buchstaben sichtbar – eine Adresse:
372 Conway St
Kaiser, CA 92241
Er reißt das Blatt ab, faltet es zusammen, steckt es in die Tasche und wirft einen Blick auf die braune Suppe in der Schüssel rechts neben ihm. Und auf die Leiche. Ja, das ist auch seine Schuld. Er will es sich nicht eingestehen, aber hätte er Donald nicht dem Sheriff überlassen, würde er jetzt in einer Zelle hocken, statt hier auf dem Boden zu liegen. Vielleicht hätte er die Adresse sogar noch aus ihm herausbekommen, ohne dass … all das nötig gewesen wäre. All das.
Diego ist ein intelligenter Mann. Er hat einen guten Highschool-Abschluss hingelegt und das Community College in Mencken ohne große Mühe mit AA abgeschlossen, obwohl er sich die meiste Zeit Hals über Kopf in diverse Kommilitoninnen verliebt und genauso schnell wieder entliebt hat. Aber selbst wenn er weniger intelligent wäre, hätte er auf den ersten Blick gewusst, was hier geschehen ist. Hier ist ein Mord geschehen. Nicht mehr, nicht weniger.
Und danach, als Donald endgültig tot war, ist Ian heimgefahren, hat sich umgezogen und vielleicht noch eine Waffe eingesteckt, bevor er sich wieder ins Auto setzte und in Richtung Westen fuhr, nach Kaiser, Kalifornien, mit einem Katheter in der Lunge und einer glatt durchschossenen Brust. Doch in Kaiser, Kalifornien, erwartet ihn wahrscheinlich nur der Tod. Denn Henry ist ein guter Schütze, das hat er gestern erst bewiesen.
Hätte Diego den Hurensohn zum Singen gebracht, wäre …
Hätte Sizemore ihn nicht laufen lassen, könnte …
Stopp. Er muss die Situation in Ruhe überdenken. Immerhin hat er nun eine Adresse; er weiß, wo Henry und Ian hinwollen. Jetzt könnte er das FBI einschalten. Wahrscheinlich ist es ohnehin längst mit von der Partie. Ein entführtes Mädchen in der Hand eines flüchtigen Mörders, das dürfte reichen. Vielleicht sitzen die Herren Special Agents längst in der Zentrale des Sheriff’s Department von Tonkawa County in Mencken, horchen Sheriff Sizemore aus und sammeln sämtliche Akten ein, um das Zeug in ihr Büro in Houston zu schaffen. Diego müsste sie nur anrufen. Das wäre wohl das Schlaueste. Aber der Plan hat einen Haken: Ian hat einen Menschen getötet. Er hat ihn systematisch gefoltert, um an Informationen zu kommen, und dann hat er ihn getötet. Diego könnte so etwas niemals tun, das weiß er, doch
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