Copyworld: Roman (German Edition)
zitierte er den Meister Kong Qiu. Das Bild eines Märtyrers würde von
seinen Taten bestimmt, nicht von den Zufälligkeiten, welche eine launische
Natur zur menschlichen Hülle formte.
Hyazinth erinnert sich recht gut
an jenen Morgen: Er senkte beschämt den Kopf und schwor sich, all seinen
kosmetischen Künsten fortan zu entsagen. Das wurde der erste Wortbruch seines
Lebens. Nein, es ging einfach nicht, ihm brach der kalte Angstschweiß aus, als
er sein ungeschminktes Gesicht im Spiegel betrachtete und sich vorstellte, so
durch Villafleur laufen zu müssen.
Von Korund Stein gibt es außer
Holographien natürlich Skulpturen, Fresken, Gemälde. Aber nur Märtyrer wie Opal
sehen den ehemaligen Obersten Kindschafter regelmäßig von Angesicht zu
Angesicht.
Die vier neuen Begleiter führen
ihn zügig und vom Geschehen offenbar nicht sonderlich beeindruckt durch den
gläsernen Irrgarten.
Wird man gebraucht, erfüllt man
seine Pflicht – Hyazinths Gedanken geraten irgendwie zurück in die Bannmeile
erprobten Regelwerks, und ihm ist das nicht unangenehm. Die Lehre gibt ihm
Sicherheit und Halt, es ist, als denke sie dem Individuum immer eine Idee
voraus. Manchmal allerdings konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sich
das Gegenteil vorzustellen: Das individuelle Denken sperrt sich jedem über die
Lehre hinausgehenden Gedanken, unterordnet sich aus Angst vor der Macht, die
der eigenen Vernunft innewohnt, oder aus Furcht vor Erkenntnis der Ohnmacht…
Wenn doch nur diese Generalgebote
nicht wären! Diese zwölf fundamentalen Sätze, die den Lebensalgorithmus eines
jeden Märtyrers formulieren! Sie sind zu klein, um die riesige Weisheit
der Lehre von der Großen Umkehr fassen
zu können. In ihrer Enge lindern sie die gewaltige schöpferische Kraft dieses
Gedankensystems. Das erste Mal kam Hyazinth dieser beängstigende Gedanke in
einer derart unpassenden Situation, daß er einige Zeit fürchtete, von einer
rätselhaften Geistesverwirrung befallen zu sein: Im Steinpark war Federchen
davongeflattert und zirpte vor Vergnügen, als er ihr besorgt hinterher rannte.
Zwischen den flatternden Lippenwülsten in ihrem Gesicht sprühten Funken in allen Farben – Federchen
lachte vor Freude und Spaß an dem Spiel, und das Pulsieren ihres Atemkropfes
wirbelte sie wie ein welkes Blatt durch die Luft. Anscheinend wußte sie genau,
daß es den Menschen verboten war, die mit prächtigen polierten Platten aller
nur denkbaren Mineralien ausgelegten Wege zu verlassen, denn oft genug setzte
sie sich, knapp außer Reichweite von Hyazinths Armen, auf eine funkelnde
Kristallstufe, und zwischen ihren Lippen zuckten spöttisch winzige Lichter auf.
In Hyazinth erwachte urplötzlich heftiger Neid.
Niemand verwehrte es diesen
vernunftlosen, dummen Wesen, Besitz zu ergreifen von all den Kostbarkeiten, die
abseits der Wege aufgetürmt waren – er hingegen durfte sie nur aus der Ferne
bestaunen, mußte der vorgeschriebenen Richtung folgen, obwohl da so vieles war,
was er gern aus der Nähe betrachtet hätte. Zwar wußte er theoretisch alles über
das Funkeln und Glänzen, Schimmern und Leuchten dieses Reichtums, was aber
nutzte sein Wissen, wenn er nicht mitten hinein gehen durfte in diesen
schillernden Garten, um die Kleinodien zu umrunden, von allen Seiten zu
betrachten und über ihre Flächen und Kanten streichen zu können.
Er schob alle Bedenken beiseite
und kletterte zwischen zwei Felsblöcke, die ihn schon immer gereizt hatten. An
Federchen verschwendete er keinen Gedanken mehr, was sie mit verärgertem
Pfeifen aufnahm. Die Steinbrocken hatten, aus einiger Distanz betrachtet, in
allen Regenbogenfarben geschillert, und Hyazinth war schon richtig krank vor
Neugier. Heimlich brach er ein winziges Stück ab und untersuchte es im
mineralogischen Institut der Märtyrerschule. Das Ergebnis enttäuschte ihn
zuerst: Es war einfacher Anthophyllit, er hatte ihn nicht sofort erkannt, weil
der Perlmuttglanz im Schein der untergehenden Sonne ungewöhnlich starkes
Schillern und Blinken hervorrief. Alles war also ganz einfach. Doch ein Wort
des fremden Meisters, dessen Sprüche er auf den Holztäfelchen aus Opals
Bibliothek gelesen hatte, kommt ihm nun in den Sinn:
so ist das gemeine wurzel des
edlen
das niedrige sockel des hohen…
darum bedarf die höchste ehre
nicht der ehrung
so laßt das jadegeklingel
auch der gemeine stein tönt.
Jade, ach Jade… als er irgendwann
nach seiner Untat mit ihr im Steinpark war, stand auch sie verzückt
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