Copyworld: Roman (German Edition)
sich
Hyazinth immer Schnee vorgestellt, von dem die alten Legenden berichten, er sei
einst vom Himmel gefallen. Auch die weißen Augenbrauen könnten aus winzigen
Schneekristallen bestehen, sie wirken nicht weich wie Watte, sondern hart und
kühl. Ganz anders der klar gezeichnete Mund, der zwischen wuchtigem Kinn und
Derbheit der kräftigen Nase wie ein Oase der Friedfertigkeit erscheint, selbst
in Augenblicken, da Opal seine Verärgerung nicht verbirgt. Das mag daran liegen,
daß die Lippen des hochgewachsenen Mannes in ständiger Bewegung sind – nicht
etwa, daß Opal Stein eine redselige Natur wäre, nein, er weiß seine Worte wohl
abzuwägen. Aber selbst wenn er anderen zuhört, bewegt sich sein Mund als
spräche er die Worte des anderen lautlos mit. Hyazinth hat diese Eigenart
anfangs verwirrt, bis er erkannte, daß dies Opals Weise ist, sich voll auf ein
Gespräch zu konzentrieren. Auch wenn der Lehrer nachdenkt - und das tut er
eigentlich unentwegt – hat es den Anschein als flüstere er vor sich hin.
Solch ein Mund hat keine Zeit für
einen harten Zug.
“Warum befinden sie sich also
hier in der Schule, was meinst du?” fragte er seinen Schüler.
Hyazinth überlegte krampfhaft.
Zwar hatte er sich diese Frage schon oft gestellt, immer ergebnislos, aber das
bedeutete für ihn keineswegs, gleich aufzugeben. Zu oft schon ist ihm
Eigenartiges widerfahren, wenn er Opal Stein gegenüberstand. Fragen, auf die er
auch nach intensivsten Grübeln keine Antwort fand, erschienen plötzlich
kinderleicht. Die meisten Schüler schwitzen vor Angst und sind wie zugenagelt,
wenn Opals Blick auf ihnen ruht. Bei Hyazinth ist es ganz anders. Als übertrüge
sich etwas vom überlegenen Verstand des Masterteachers auf ihn, findet er
Lösungen, an die er nie gedacht hätte, unter dem flammenden, bohrenden Blick
dieser nachtschwarzen Augen.
“Hier sind sie am besten
aufgehoben”, sagte Hyazinth unsicher.
“Bestimmt”, entgegnete Opal,
“aber warum?”
Weil hier die Märtyrer mit der
Weisheit der Lehre vertraut gemacht werden, dachte Hyazinth. Was soll der
Exarch mit all diesen Büchern, wenn sich ein Display viel leichter handhaben
läßt? Mitten in seine Gedanken hinein sagte Opal: “Nimm!” und reichte ihm die
Tafel. Zögernd griff Hyazinth zu. Als er
das Holz in den Fingern spürte, überkam ihn ein seltsames Gefühl.
“Man sagt, der Meister selbst
habe diese Schriftzeichen mit Tusche und Pinsel gemalt”, murmelte er vor sich
hin.
“Das ist wahr”, antwortete Opal
ruhig.
Wie eine unsichtbare aber
mächtige Kraft strömte es Hyazinth über die Arme bis in die Brust. Dieser Strom
schien aus den unscheinbaren Holztäfelchen zu quellen und erfüllte ihn mit
unbeschreiblicher Gewißheit von der tiefen Wahrheit der Lehre
“Es ist seltsam, ich… weiß nicht
recht, aber…”, stotterte er hilflos.
“Nein, du kannst es auch noch
nicht wissen, verzeih mir, Hyazinth”, sagte Opal mit milden Lächeln. Erneut
strich er sich die weißen Haare aus dem Gesicht und fuhr nachdenklich fort: “In
eurem Alter versteht man Größe und Erhabenheit einer Idee noch mit dem Herzen,
deshalb sind die Schriften Eigentum der Märtyrerschule.” Und mit seltsamen
Unterton fügte er hinzu: “Der reine Verstand des Gereiften begnügt sich mit dem
Wort, er braucht keine Gefühle als Skelett der Erkenntnisfähigkeit…” Nach einer
winzigen Pause sagte er noch mit unerklärlicher Traurigkeit: “Manchmal denke
ich, die wirkliche Wahrheit könnt nur ihr jungen Leute finden. Wir Alten
mißbrauchen unseren Verstand, um Erklärungen für dasjenige auszuklügeln, was
wir in Ermangelung besseren Wissens zur Wahrheit erklärten…”
Dann straffte er sich als habe
ihn ein Blitzstrahl getroffen, und er sagte schroff: “Vergiß das!”
Hyazinth wunderte sich ein wenig
über den heftigen Ton dieses Befehls. Schade, daß Opal die Prüfung nicht
fortgesetzt hat, sagte er sich. Er hätte die Antwort wohl gewußt, die Opal ihm
abgefordert hätte: Es gibt keine absolute, endgültige Wahrheit! hätte er gesagt. In der Jugend bestaunt man
die Größe all dieser Fragen – im Alter hingegen hat man erkannt, daß nur harte
Arbeit die Erkenntnis über die Welt vervollkommnen kann. Der Masterteacher wäre
mit der Antwort sicherlich zufrieden gewesen.
Hyazinth lächelte freundlich und
abwartend. Da fuhr Opal ihn unerwartet grob an: “Mach nicht wieder solch ein
blödes Gesicht! Wenn der Exarch dich so sieht, fällt er in Ohnmacht.”
Noch
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