Cora - MyLady 334 - Clay, Merilyn - Miss Tessa aus Amerika
mutig von ihr gewesen, allein hierher zu reisen. Nicht seine Kritik brauchte sie, sondern seine Hilfe,
»Miss Darby«, begann er großartig, »wie ich sehe, stecken Sie in einem Dilemma. Sie sind nach England gekommen, um hier ganz von vorn anzufangen, und doch…« Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich lässig auf die Tischkante. In seinem Blick spiegelte sich Warmherzigkeit, als er nun auf sie hinabsah. »Mir ist völlig klar, dass Sie nicht wissen, was in England von einer jungen Dame erwartet wird. Mutter wird Ihnen da keine große Hilfe sein, fürchte ich – schließlich hat sie nur Söhne großgezogen –, aber ich kann Ihnen zufälligerweise zu Diensten sein. Mir sind die komplizierten Verhaltensmaßregeln und Vorschriften wohl bekannt, die das Leben einer jungen Dame in London bestimmen. Ich werde Ihnen mit Freuden zur Seite stehen, Miss Darby, und jede Ihrer Fragen beantworten.« Er betrachtete sie erwartungsvoll. »Haben Sie irgendwelche Fragen, Miss Darby?« fragte er geduldig.
Ihre verständnislose Miene verwirrte ihn. Er wartete ein Weilchen, doch sie sagte einfach nichts.
»Nun, es gibt Momente«, sagte er noch freundlicher, »in denen einem so wenig klar ist, was man nicht weiß, dass es einem wie eine unüberwindbare Aufgabe vorkommt, eine Frage zu formulieren.«
Er stellte sich wieder vor seinen Schreibtisch und zog ein cremeweißes Blatt Büttenpapier aus einer Schublade.
»Zufällig habe ich erst vor kurzem eine liste von Eigenschaften und Tugenden erstellt, die Ihnen hilfreich sein könnte. Ich habe sie mit ,Verhaltensmaßregeln für junge Damen’ überschrieben.« Er sah sie über den Rand des Papiers an. »Ich lese sie Ihnen gern vor.«
Als ihre Augen sich verdunkelten, betrachtete er es als Signal, wie begierig sie war, so viel wie möglich von ihm zu lernen, holte tief Luft und begann zu lesen.
»Eine wohlerzogene junge Dame verhält sich immer ruhig und zurückhaltend. Sie neigt nicht dazu, laut zu sprechen oder zu lachen. Sie ist tugendsam in der Öffentlichkeit wie zu Hause, verfügt über eine fröhliche Natur, zeigt sensible Großzügigkeit – was heißen soll, dass sie das Wohlergehen der anderen über ihr eigenes stellt«, erklärte er.
»Sie verbringt ihre Zeit nutzbringend und spielt sich nicht in den Vordergrund, außerdem…«, hier konnte er sich nicht enthalten, ihr einen strengen Blick zuzuwerfen, »…
fällt sie niemals unangenehm auf.«
Er sah wieder auf seine Liste. »Der Rest befasst sich mit weiblichen Fertigkeiten wie Nähen, Klavierspielen, Tanzen und so weiter, in denen Sie sicher angemessen unterrichtet wurden. Manche Dinge sind eben auf der ganzen Welt gleich, nicht wahr?« Er legte die Liste beiseite und schenkte ihr einen beifälligen Blick. »Wirklich lobenswert, dass Sie an sich arbeiten möchten, Miss Darby. Haben Sie noch Fragen?«
Tessa starrte ihn an. Schließlich murmelte sie: »Nein, Sir.«
»Also dann.« Penwyck atmete noch einmal tief durch.
»Mein Sekretär soll die Liste für Sie abschreiben. Ich habe immer eine Kopie bei mir. Vielleicht möchten Sie meinem Beispiel folgen?« Wieder betrachtete er sie erwartungsvoll.
»Das wird kaum nötig sein, Sir. Ich verfüge über ein gutes Gedächtnis.«
»Prächtig, Miss Darby. Wenn Sie mich nun entschuldigen möchten? Unser Gespräch hat mich sehr erfreut, aber mich rufen wichtige geschäftliche Angelegenheiten.«
Tessa sprang sofort auf. »Danke, Sir.«
»Falls Sie in einer Zwangslage stecken, dann zögern Sie bitte nicht, mich zu konsultieren.« Er sah zu, wie die junge Dame den Raum durchmaß und ihm noch ein, zwei schüchterne Blicke zuwarf, bevor sie im Flur verschwand.
Sie ist reichlich merkwürdig, entschied er. Eine seltsame Mischung aus Stolz und Trotz, und doch hatte sie etwas Verletzliches an sich, das sie… nun ja, recht anziehend machte.
Und außerdem ist sie wirklich sehr hübsch, gab er zu. Er hatte noch nie so glatte, cremeweiße Haut gesehen, so glänzendes rotbraunes Haar. Seine Mutter würde sicher dafür sorgen, dass die viel zu langen Locken einen passenden Schnitt erhielten. Vermutlich konnten sie von Glück sprechen, dass sie ihr Haar nicht in Zöpfen trug wie eine indianische Squaw.
Wie Mr. Ashburn gestern im Park festgestellt hatte, verfügte Miss Darby über eine hübsche Figur, mit vollen Brüsten und wohlgeformten Hüften, obwohl sie für Penwycks Geschmack ein wenig zu groß geraten war. Ihr Mund war fein geschnitten, ihre Nase klein. Am
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