Cowboy - Riskanter Einsatz
Niemand schien auch nur zu merken, dass eine hochschwangere Frau verzweifelt hinter einem zwölfjährigen Jungen herrannte.
Niemand, außer einem besonders großen, besonders breitschultrigen Mann an der nächsten Ecke. Das Sonnenlicht tanzte in seinem ausgebleichten braunen Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Er war genauso gekleidet wie all die anderen Spaziergänger, die sich an einem typischen Sonntagmorgen in den pittoresken kleinen Antiquitätenläden rings um den Stadtpark drängten: in ein grünes Polohemd und eine khakifarbene Hose, die bei ihm allerdings sündhaft gut saßen.
Anscheinend mühelos griff er sich den Jungen und hielt ihn fest. Er bewegte sich mit der geschmeidigen Eleganz eines durchtrainierten Kämpfers. Und in genau diesem Augenblick erkannte Melody, wer er war. Er brauchte nicht näher zu kommen. Sie wusste auch so, wie sehr das grüne Polohemd das strahlende Grün seiner Augen unterstrich.
Lieutenant Harlan „Cowboy“ Jones war nach Appleton gekommen, um nach ihr zu suchen. Melodys Blickfeld verschwamm, ihr wurde schwarz vor Augen. Sie hatte das Gefühl, Jones durch einen langen stockdunklen Tunnel anzublicken.
„Ist das der Junge, den Sie wollten, Ma’am?“, rief er ihr über die Straße hinweg zu. Seine Stimme übertönte kaum das Rauschen in ihren Ohren. Er hatte noch nicht bemerkt, dass er sie gefunden hatte. Er erkannte sein Mädchen nicht – nicht in dieser neuen, extragroßen, Zwei-zum-Preis-von-einem-Version.
Melody fühlte, wie Übelkeit sie übermannte. Alles drehte sich. Und Melody tat das Einzige, was sie unter den gegebenen Umständen tun konnte: Sie ließ sich vorsichtig auf den Rasen des Stadtparks von Appleton sinken und wurde ohnmächtig.
„Was soll denn das?“, schimpfte Cowboy mit dem sich heftig sträubenden Jungen und trug ihn über die Straße. „Was hast du angestellt, dass deine Mom so hinter dir herrennen muss?“
„Sie ist nicht meine Mutter“, fauchte der Bengel, „und Sie sind nicht mein Vater, also lassen Sie mich gefälligst los.“
Cowboy schaute auf und blinzelte verdutzt. Seltsam. Eben hatte die Frau noch direkt hinter dem blauen Honda gestanden. Eine blonde, offenbar hochschwangere Frau. Aber jetzt war sie verschwunden.
Er ging ein paar Schritte weiter, und dann sah er sie. Sie lag auf dem Boden hinter den parkenden Autos, lang ausgestreckt auf der Seite, als hätte sie beschlossen, ein Nickerchen zu machen. Ihr langes Haar bedeckte wie ein Vorhang ihr Gesicht.
Der Junge hatte sie auch entdeckt und hörte plötzlich auf, sich zu wehren. „O Gott, ist sie tot?“ Er verzog das Gesicht. „O Gott, nein, habe ich sie umgebracht?“
Cowboy ließ den Jungen los. Rasch eilte er zu der Frau und kniete sich neben ihr auf den Boden. Er schob eine Hand unter ihr Haar und suchte mit dem Finger nach ihrer Halsschlagader. Ihr Puls war deutlich spürbar, ging aber viel zu schnell. „Sie ist nicht tot.“
Der Junge machte keine Anstalten mehr wegzulaufen. „Soll ich ein Telefon suchen und den Notruf wählen?“
Cowboy legte der Frau die Hand auf den Bauch. Vielleicht lag sie in den Wehen. Aber ihm war nicht klar, ob er das überhaupt würde fühlen können. Er kannte sich ganz gut in Erster Hilfe aus. Er wusste, was zu tun war, wenn es um Stich- und Schusswunden sowie Verbrennungen dritten Grades ging. Aber bewusstlose schwangere Frauen gingen weit über seinen Horizont. Immerhin kannte er die Anzeichen für einen Schock. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, um sich ihre Augen anzusehen, und drehte sich zugleich zu dem Jungen um: „Ist es weit bis zum nächsten Krankenhaus?“
„Nein, es liegt ganz in der Nähe. Nur ein paar Blocks weiter nördlich.“
Cowboy wandte sich wieder der Frau zu, um die Pupillen zu kontrollieren – und erstarrte. Ein paar endlos lange Sekunden konnte er sich nicht rühren.
Großer Gott, es war Melody. Es war Melody. Diese hochschwangere Frau war Melody. Seine Melody. Seine …
Er bekam keine Luft mehr, die Stimme versagte ihm, das Denken fiel ihm schwer. Melody. Schwanger?
Als ihm klar wurde, was das bedeutete, warf es ihn fast um. Aber dann kam ihm sein Training zu Hilfe. Mach weiter. Tu was. Denk nicht mehr nach als unbedingt nötig. Denk nicht nach, wenn dich das behindert und bremst. Handle. Handle und reagiere.
Sein Mietwagen stand an der Ecke der Main Street. „Wahrscheinlich kriegen wir sie schneller ins Krankenhaus, wenn ich sie fahre.“ Er klang heiser. Es war fast
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